Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf
Der nasse Fisch
Volker Kutschers Krimi ist eine abenteuerliche, aber nicht unrealistische Geschichte, in der es um russischen Adel und Berliner Unterwelt, um einen immensen Goldschatz auf sowjetischem Boden und um Waffen für die Reichswehr und die Nazis geht.
8. April 2017, 21:58
Für gewöhnlich heißt es in solchen Fällen: Finger weg!
Der Autor ein Deutscher, der Stoff ein historischer, der Titel ein gröberer Pleonasmus – oder: haben Sie schon mal einen "trockenen Fisch" gesehen, es sei denn in der Pfanne? Nein, auch der Stockfisch zählt hier nicht, selbst der schwimmt vor seiner endgültigen Zubereitung noch einmal posthum im Wasser. Und das mehrere Tage lang. Aber das führt jetzt zu weit.
Also der Autor stammt aus Köln, heißt Volker Kutscher und war Zeitungsjournalist bis er mit dem Krimischreiben begonnen hat. "Der nasse Fisch" ist nicht sein erster Kriminalroman, es könnte aber jener sein, der Kutscher zu einer fixen Größe im Genre macht. Denn wider Erwarten und allen widrigen Ausgangsbedingungen zum Trotz ist dieses knapp 500 Seiten starke Buch ein höchst lesenswertes Stück Kriminalliteratur vor politisch-historischem Hintergrund.
Ein alles andere als sympathischer Held
Schauplatz ist das zigfach beschriebene, sagenumwobene Berlin der späten 1920er Jahre; der Held heißt Gereon Rath, ein junger Kriminalkommissar, der eben von Köln nach Berlin versetzt worden ist, weil er in seiner Heimatstadt das Schießeisen etwas zu locker gehandhabt hat. In Köln war er bei der Mordkommission, in Berlin fängt er bei der Sitte an - also ganz unten auf der kriminalpolizeilichen Karriereleiter.
Drei Dinge sind es, die ihn rasch aufsteigen lassen: sein alles andere als sympathischer Ehrgeiz, der ihn nicht nur sprichwörtlich über Leichen gehen lässt; seine väterlichen Fürsprecher, darunter der Berliner Polizeipräsident selbst, der Sozialdemokrat Zörgiebel - im Roman ein Freund des Rathschen Elternhauses, in der historischen Wirklichkeit jener Mann, der auf die 1. Mai-Demonstranten im Berlin des Jahres 1929 schießen ließ; und schließlich jene Portion Glück, ohne die im wirklichen Leben wenig und in der Kriminalliteratur schon gar nichts geht.
Ein "großer" Fall
Den Seinen gibt's der Herr im Schlafe, und dem Gereon Rath wird sein "großer Fall" direkt ans Bett geliefert. Das Untermietzimmer, in dem er von einer in jeder Hinsicht freigebigen Kriegswitwe versorgt wird, ist nämlich zuvor die Absteige eines Exilrussen gewesen. Der ist spurlos verschwunden, und ein anderer Russe, der seinen Landsmann nächtens gesucht und dabei den Kommissar unsanft geweckt hat, wird wenig später als grausam zugerichtete Leiche aus der Spree gezogen.
Das ist der Ausgangspunkt für eine abenteuerliche, aber nicht unrealistische Geschichte, in der es um russischen Adel und Berliner Unterwelt, um einen immensen Goldschatz auf sowjetischem Boden und um Waffen für die Reichswehr und die Nazis geht.
Psychologisch überzeugend
Abgesehen von wenigen Überlängen und einem etwas überzogenen "Showdown" am Berliner Ostbahnhof hat Volker Kutscher einen atmosphärisch dichten, ausgiebig recherchierten und auch psychologisch überzeugenden Kriminalroman geschrieben. Mit seinen - wie gesagt - unsympathischen, karrieristischen Eigenschaften wird eine widersprüchliche, alles andere als einförmige Figur des "Helden" und Ermittlers Gereon Rath präsentiert.
Das Berlin der "goldenen 20er Jahre" entsteht nicht nur als detailgetreue Romankulisse - vom Hotel Adlon bis zu den Mietskasernen am Wedding und in Neukölln -, sondern auch als lebendige Verkörperung eines eklatanten Widerspruchs von exzessiv-orgiastischer Boheme rund um den Ku'damm und militärisch organisierten Auseinandersetzungen zwischen Nazis, Kommunisten und der Polizei auf den Straßen einer Metropole, die von Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit zerrissen wird.
Der "Kriminalistenbuddha"
Lebendig und real sind auch die historischen Persönlichkeiten, die der Krimiautor hier aufmarschieren lässt, insbesondere die aus der Berliner Kriminalpolizei: Ernst Gennat, so hieß der schon zu Lebzeiten legendäre Chef der "Mordinspektion" im Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Wegen seiner Leibesfülle und seiner Vorliebe für Kuchen und Süßspeisen auch "Buddha" genannt, hatte er die Kriminalistik seiner Zeit revolutioniert. Moderne Spurensicherung, aber auch die ersten Fahndungsaufrufe übers Fernsehen - noch vor dem Zweiten Weltkrieg - waren Gennats Neuerungen gewesen.
Das kann man in Biografien über den "Kriminalistenbuddha" und in spannenden Dokumentationen über das kriminelle Treiben im Berlin der Weimarer Republik nachlesen. Von dort dürfte es wohl auch Volker Kutscher, der Krimiautor, haben. Insofern wäre ein Quellenhinweis oder eine Danksagung am Ende des Romans schon noch drin gewesen, denn die Bücher der Schriftstellerkollegin Regina Stürickow sind auch erst in den letzten Jahren erschienen und noch lieferbar.
Das sei der Vollständigkeit halber, um nicht zu sagen: der Redlichkeit wegen erwähnt; und auch der pleonastische Romantitel bedarf noch einer Klärung: "Nasse Fische" nannten die Berliner "Kriminaler" die ungelösten Fälle. Heute würde man wohl "cold case" dazu sagen. Volker Kutschers "nasser Fisch" soll jedenfalls der Auftakt zu einer Krimi-Serie um den Jungkommissar Gereon Rath und das Berlin jener Jahre sein. Auf die Fortsetzungen darf man gespannt sein.
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Ex libris, Sonntag, 9. Dezember 2007, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Volker Kutscher, "Der nasse Fisch", Verlag Kiepenheuer & Witsch