Rettung vor dem Hungertod

Geh und lebe

Mitte der 80er Jahre startete die "Operation Moses", eine Initiative zur Rettung äthiopischer Juden. In Radu Mihaileanus Film gibt eine Mutter, eine äthiopische Christin, ihr 9-jähriges Kind als Juden aus, um ihn vor dem sicheren Tod zu retten.

Unter dem Namen "Operation Moses" wurden 1984 rund 8000 Juden aus Flüchtlingslagern im Sudan nach Israel transportiert. Sie stammten aus Äthiopien und wurden "Falashas" genannt. Doch der Empfang in Israel war nicht immer herzlich, eine bislang wenig bekannte Tatsache, die den aus Rumänien stammenden Regisseur Radu Mihaileanu inspiriert hat, den Film "Geh und lebe" zu drehen. Der 47-Jährige hatte bisher vor allem durch seine bittere Holocaust-Satire "Zug des Lebens" auf sich aufmerksam gemacht.

Doch nicht jeder äthiopische Jude, der Mitte der 80er Jahre aus einem sudanesischen Flüchtlingslager nach Israel gebracht wurde, war tatsächlich ein Jude. So mancher hatte sich eine falsche Identität zugelegt, um dem drohenden Hunger- oder Seuchentod im Sudan zu entgehen. Von Schlomo, einem dieser Fälle, erzählt "Geh und lebe"; von einem 9-jährigen Buben, dessen jüdische Identität immer wieder angezweifelt wird. Und auch Schlomo selbst gerät immer mehr in einen Identitätskonflikt, immer wieder getrieben von der Angst, Fehler zu machen, entdeckt zu werden, sich selbst zu verraten.

Radu Mihaileanu im Gespräch mit Arnold Schnötzinger

Arnold Schnötzinger: Radu Mihaileanu, das Thema der Juden aus Äthiopien in Israel ist weitgehend unbekannt. Wie sind Sie denn darauf gekommen?
Radu Mihaileanu: Ich wusste auch nicht sehr viel über diese Sache. Eines Abends war ich in Los Angeles bei der Eröffnung des jüdischen Filmfestivals, wo mein Film "Zug des Lebens" gezeigt wurde. Danach komme ich an einem Tisch neben einem farbigen Mann zu sitzen. Ich fragte ihn, ob er vielleicht Schauspieler in Hollywood sei, doch er verneinte und erzählte mir stattdessen seine Lebensgeschichte, also wie er Äthiopien barfuß in Richtung Sudan verließ und schließlich nach Israel gelangte. Der Großteil seiner Familie war auf der Reise gestorben. Diese Geschichte hat mich wirklich gerührt, ich habe sehr viel geweint dabei. Ich bin nach Paris zurück gefahren und habe viel über diese Ereignisse nachgelesen. Zu diesem Zeitpunkt wusste aber noch nicht, dass ich einen Film daraus machen würde.

Wie war dann die weitere Recherche?
Für mich ist dies das größte Abenteuer der Menschheit im 20. Jahrhundert. Ich dachte mir, es sei mein Job, unsichtbare Menschen im Kino sichtbar zu machen. Gemeinsam mit meinem Co-Autor habe ich dann fünf Jahre lang Betroffene befragt, aber auch Leute vom israelischen Geheimdienst. Wir haben eine so großartige Geschichte entdeckt, dass wir uns gar nicht fürchteten, einen vielleicht schlechten Film zu machen, denn im Lauf der Recherche sind wir selbst an der Aufgabe sehr gewachsen.

Wie ist der Plan entstanden, diese historischen Tatsachen an Hand eines fiktiven Einzelschicksals aufzuarbeiten?
Am Anfang wollten wir die Geschichte eines äthiopischen Juden erzählen, ähnlich wie sie mir der Mann in Los Angeles erzählt hatte. Aber dann hatten wir uns überlegt, dass es ja nicht nur darum ging, die Juden zu retten, sondern vor allem auch an jene Mütter im sudanesischen Flüchtlingslagen zu denken, die ihre Kinder nicht retten konnten. Da ist dann die falsche jüdische Identität ins Spiel gekommen, quasi um das nackte Leben zu retten. Das schien mir noch wichtiger, interessanter und universeller zu sein. Zudem hat es mehr Dramatik in die Geschichte gebracht.

Wie schon in Ihrem Film "Zug des Lebens" bauen Sie also ein Leben, eine Identität auf einer großen Lüge auf? Hat das auch mit Ihrer eigenen Lebensgeschichte zu tun?
Ja, mit Sicherheit - obwohl ich immer wieder draufkomme, dass ich das nicht absichtlich mache. Es ist ja so, dass Lügen bei mir positiv besetzt sind, denn sie sind eine Möglichkeit zu überleben. Und natürlich hat das auch mit meiner Familiengeschichte zu tun. Ich heiße Mihaileanu nur deshalb, weil mein Vater im Zweiten Weltkrieg diesen Namen annahm. Er war ein rumänischer Jude und hieß Mordechai Buchmann, doch nachdem er aus einem Lager entkommen war, änderte er seinen Namen, um zu überleben. Und ich selbst wurde in Rumänien als Jude geboren, ging dann nach Paris, wo ich seit 25 Jahren lebe, aber immer noch als Rumäne gelte wegen meines Akzents. In Rumänien gelte ich aber umgekehrt als der Franzose. Wer weiß also schon, wer ich bin?

Ihr Film scheut sich nicht, die Diskriminierung der äthiopischen Juden in Israel zu zeigen,, wo doch Juden selbst oft diskriminiert werden. Ein wenig werden da die Schemata von Opfer und Täter relativiert. Haben Sie dafür auch Kritik aus Israel gefürchtet?
Schauen Sie, ich bin Jude und ich liebe Israel und war auch oft dort, aber in diesem Punkt musste ich einfach deutlich sagen, dass sich eine Minderheit dort gegenüber den farbigen Juden schlicht rassistisch verhält. Israel ist eben nicht das viel zitierte, gelobte Land, sondern einfach ein Land, das Probleme hat, die es anderswo auch gibt. Mein Film geht ja noch viel weiter und appelliert, den Rassismus in der ganzen Welt zu stoppen.

Ihr Film mischt Dokumentarisches mit sehr kommerziellen Kinoformen. Sehen Sie sich mehr in der Tradition des Autorenfilms oder doch eher im Mainstream-Kino verankert?
Ich mag es eigentlich nicht, wenn man zwischen diesen beiden Richtungen wählen muss. Ich glaube, ein Film ist vor allem eine Show, in der die Zuseher etwas sehen wollen, was größer ist als ihr eigenes Leben. Meine Filme sind Spielfilme mit dokumentarischem Hintergrund, dennoch möchte ich, dass mein Publikum in einem Film eine Art Reise in eine Geschichte antritt, die ihm große Gefühle, aber auch Erkenntnisse vermittelt. Als ich die Recherche zu diesem Film machte, konnte ich die Dramatik der Ereignisse kaum glauben. Zugleich erkannte ich, dass ich es mit einer großen Erzählung zu tun hatte, quasi mit einer Legende. Natürlich gibt es dann große Gefühle in meinem Film, fast so wie in einem Hollywood-Streifen, aber genau dieser ästhetische Zugang gibt mir auch die Möglichkeit, den Stoff einem breiten Publikum zu vermitteln.

Geh und lebe
(Va, vis et deviens)
Frankreich/Israel, 2004
Mit: Moshe Abebe, Yaël Abecassis, Sirak M. Sabahat u. a.
Drehbuch und Regie: Radu Mihaileanu