Kollektives Wissen
Die Weisheit der Vielen
In seinem aktuellen Buch beweist James Surowiecki plastisch und humorvoll, dass richtig zusammengestellte und nach den richtigen Entscheidungsregeln handelnde Gruppen im Allgemeinen bessere Erfolgsaussichten haben als Individuen.
8. April 2017, 21:58
Ist die Weisheit der Gruppe größer als die ihres klügsten Individuums? Diese Frage hat James Surowiecki, ein viel beachteten Wirtschaftskolumnist des Magazins "The New Yorker", immer wieder beschäftigt. Doch erst als er folgende Anekdote hörte, entschloss er sich zu einem Buch.
Wo ist das U-Boot "Skorpion"?
1968 verschwand das amerikanische U-Boot "Skorpion". Niemand wusste, was der Mannschaft zugestoßen war. Nur die letzte Position war bekannt. Ein Marineoffizier kam auf eine eher ungewöhnliche Idee, wie man das U-Boot finden könne. Zunächst konstruierte er Szenarien, was hätte passiert sein können.
Sodann trommelte er ein Team von Männern mit einem breiten Spektrum an Kenntnissen zusammen, darunter Mathematiker, U-Boot-Experten und Bergungsspezialisten. Statt sie nun aufzufordern, untereinander zu beraten und mit einer gemeinsamen Antwort aufzuwarten, bat er jeden Einzelnen um ein von diesem favorisiertes Szenario. Um die Sache interessanter zu machen, ließ er sie ihre Einschätzungen in Form von Wetten abgeben.
Anschließend berechnete der Offizier aus all diesen Möglichkeiten den wahrscheinlichsten Bergungsort. Und genau dort fand man auch das U-Boot. Es war also die Vorstellungskraft vieler Leute gewesen, die mit vereinten Kräften und doch individuell zum Erfolg beigetragen haben.
Die richtige Frage
Diese Weisheit der Vielen komme täglich bei Sportwetten oder an der Börse zum Tragen, sagt James Surowiecki. Er definiert, was darunter zu verstehen ist, so: "Unter den richtigen Bedingungen, die sehr wichtig sind, können Gruppen sehr gescheit sein. Und zwar gescheiter, als deren gescheitestes Individuum. Wenn ich von 'Gruppe' rede, dann meine ich viele verschiedene Leute, wobei jedoch jeder unabhängig für sich denkt. Und dann muss jemand alle diese Meinungen auf einen Nenner bringen. Wenn das gelingt, und wenn man die Frage richtig gestellt hat, ergibt das nicht nur ein erstaunlich richtiges Bild der Welt, wie sie ist, sondern auch der Zukunft."
Viel hänge davon ab, wie eine Frage gestellt werde, sagt James Surowiecki. Das zeigt sich etwa bei Wahlumfragen. Meinungsforschungsinstitute rufen Leute aus verschiedensten sozialen Schichten vor der Wahl an und fragen: Für wen werden Sie stimmen? Daraus ergibt sich eine Prognose. Die Treffsicherheit lässt jedoch meist zu wünschen übrig.
Man müsse die Sache anders angehen, sagt James Surowiecki. Wie beim Pferderennen stellt man die neutralere Frage: Wer wird Sieger? Das machen in den USA Märkte, die quasi Termingeschäfte auf Wahlen abschließen. Über die letzten 16 Jahre waren diese Prognosen sehr präzise.
Herdendenken
Wenn die Vielen so gescheit sind, wie der Autor behauptet, dann stellt sich die Frage, warum das Wort Masse einen so schlechten Beigeschmack hat. Bei Begriffen wie Massenartikeln oder Massenurlaub denkt man an menschliche Herden, die alle das wollen, was andere auch haben. Am extremen Ende der Herde steht der Mob, ein gewalttätiger, randalierender Haufen also, wo von Weisheit keine Spur ist. Auch James Surowiecki sieht das so. Zumindest bedingt.
"Wenn Leute nicht selbständig denken, dann verliert man den Vorteil der kollektiven Urteilsbildung", meint er. "Doch in Situationen von sozialem Wandel will man sehr wohl, dass Menschen gemeinsam und dramatisch handeln. Und das ist dann oft ein Ausdruck von Herdenverhalten. Und oft geht das auch gut aus."
Politische Prognosen
Wenn eine weise Gruppe aus sehr unterschiedlichen Individuen besteht und wenn weiters diese Individuen jeweils individuelle Entscheidungen treffen, dann müsste der demokratische Wahlvorgang eigentlich der Höhepunkt der Weisheit darstellen. Dem, so der Autor, sei leider nicht so. Der demokratische Prozess reflektiere leider nicht die Weisheit der Vielen. Das liege daran, dass die Wähler nicht alle ein- und dasselbe Problem lösen wollen. Als Beispiel führt er den Rennplatz an.
"Jeder schätzt Gewinnchancen anders ein, aber sie alle sind sich einig: Es geht darum, welches Pferd gewinnt", erklärt Surowiecki. "In der Politik gibt es diese Übereinstimmung nicht, dass alle den einen Kandidaten wählen, der für das ganze Land am besten ist. Die einen wählen jemanden, der für ihren jeweiligen Staat gut ist oder für einen Industriezweig oder für die Religion. Das macht die Sache sehr schwierig."
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
James Surowiecki, "Die Weisheit der Vielen. Warum Gruppen klüger sind als Einzelne", aus dem Amerikanischen übersetzt von Gerhard Beckmann, Bertelsmann Verlag, ISBN 3570006875