Blutige Vergangenheit, blutige Gegenwart
Oran, Stadt der Löwen
Die Legende berichtet, dass einst Löwen die Ebene und die Berge von Oran bevölkerten. Und dass die beiden letzten von den Stadtgründern, andalusischen Matrosen, getötet wurden. Und dass die beiden steinernen Löwen am Eingang zur Stadtregierung daran erinnern sollen.
8. April 2017, 21:58
Seltsam, ein Mal der Erinnerung in der Stadt, die Assia Djebar, die bedeutendste lebende Autorin des Maghreb, als eine Stadt des Vergessen-wollens beschreibt:
In Oran vergisst man. Vergessen über Vergessen. Eine weißgewaschene Stadt, ein geweißtes Gedächtnis...
Immer wieder wählt sie Oran als Schauplatz ihrer Geschichten. Und jeder einzelne Stein dieser elf Jahrhunderte alten Stadt könnte Geschichten erzählen. Von den Kämpfen der Almoraviden und Almohaden um den Reichtum versprechenden Küstenstreifen. Von den Piraten und ihren Opfern, die entweder gegen Lösegeld freigekauft oder gegen Handgeld auf dem Sklavenmarkt verschachert wurden. Vom Eindringen der Mauren, die aus Spanien vertrieben worden waren. Von den spanischen Jahrhunderten.
Fremdherrschaft seit 1509
Ferdinand der Katholische nahm die Seeräuberei als Vorwand, um Oran anzugreifen. Er begann seine Herrschaft im eroberten "Barbareskenstaat" am 17. Mai 1509 mit einem Massaker an der Zivilbevölkerung: 4000 Tote und 8000 gefangene Moslems schmückten den triumphalen Einzug des Kardinals Francisco Ximenes de Cisneros, der sofort sämtliche Moscheen in Kirchen verwandelte und eine Kette von Forts bauen ließ.
Zehn große Belagerungen hatte Oran während der knapp 300 Jahre dauernden spanischen Herrschaft zu überstehen. Die letzte begann am 8. Oktober 1792 und endete noch in derselben Nacht: Ein Erdbeben, das stärkste einer ganzen Serie, zerstörte die Stadt fast vollständig und beschleunigte so den Abzug der Spanier aus Oran. Die Stadt erkannte die Oberhoheit des osmanischen Dey von Algier an und wurde Residenz.
Widerstand gegen Franzosen
Und wieder musste die Seeräuberei als Kriegsgrund herhalten, als die Franzosen 1830 die südwestliche Küste des Mittelmeers eroberten und im Jänner 1831 Oran einnahmen. Sie hatten einen schweren Stand: Abd el-Kader, der Emir von Maskara, war nur der Erste, der den Widerstand gegen die Besatzer anführte. Es dauerte mehr als 60 Jahre, bis die französische Herrschaft etabliert war.
Erst um 1925 begann es wieder zu gären: Messali Hadj gründete in Paris den "Nordafrikanischen Stern", die erste algerische Unabhängigkeitsbewegung. Sie wurde 1939 verboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Algerien Zentrum der französischen Résistance war, scheiterten die Bemühungen von Ferat Abbas, ein autonomes Algerien innerhalb des französischen Staates zu erlangen.
Aufstand und Befreiung
Am 31. Oktober 1954 um 24 Uhr begann der Aufstand zur Befreiung Algeriens, und jedes Jahr erinnert ein spezielles Konzert an diesen historischen Zeitpunkt: ein "Gedenk-Heulen" der Sirenen aller im Hafen anwesenden Schiffe, begleitet von Böllerschüssen, die die Anzahl der seither vergangenen Jahre markieren.
500.000 Mann schickte Frankreich gegen Ali Ben Bellas FNL, die Front de Libération Nationale - und keine der beiden kämpfenden Seiten nahm Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Verhandlungen und Zugeständnisse von Seiten der Franzosen brachen der 4. Französischen Republik das Genick, und die neue 5. Republik mit Charles de Gaulle an der Spitze entließ Algerien gegen den Widerstand der Armee und der Algerien-Franzosen am 1. Juli 1962 in die Unabhängigkeit.
Oran bezahlte mit einem auf einen Schlag leerem Zentrum. "Das Herz der Stadt haben sie zehn Jahre lang ausbluten lassen", schreibt Assia Djebar. Sie hält in ihren Büchern und Filmen die Erinnerung an die zahllosen Menschen, die im Namen der Politik abgeschlachtet wurden und bis heute ermordet werden, lebendig.
Buch-Tipps
Assia Djebar, "Frau ohne Begräbnis", übersetzt von Beate Thill, Unionsverlag, ISBN: 3293203027
Assia Djebar, "Das verlorene Wort", übersetzt von Beate Thill, Unionsverlag, ISBN: 3293003389