Die verborgenen Welten der 11- bis 18-Jährigen
Kindergeheimnisse
In ihrem neuen Buch versucht Christiane Tramitz, in die Gedanken und Gefühle der Kinder und Jugendlichen heute Einblick zu geben: in die "verborgenen Welten" des Abschieds, der Freunde, der Schule, der Liebe und der Emotionen, der Träume und der Zukunft.
8. April 2017, 21:58
André ist zwölf, wird in der Schule immer schlechter und leidet darunter, dass seine Freunde immer weniger und sein Stiefvater immer strenger wird. "Neulich hat er mir das Nasenbein gebrochen", sagt er.
Dino ist 14 und würde mit seiner Mutter so gern über seine Schüchternheit sprechen, glaubt aber, dass sie das verletzen könnte, wenn er sagt, dass ein bisschen Schuld daran auch ihre Erziehung habe.
Frederik ist 16 und Satanist. Er liebt schwarze Kleidung, trinkt das Blut geschlachteter Schafe und leidet darunter, keine Gefühle zeigen zu können.
Birgit ist 13 und übergewichtig. Ihr bester Freund heißt Steven und ist ein Tagebuch.
Jana ist 16 und hasst ihren großen Busen. Heimlich spart sie für eine Operation, doch ihre Eltern dürfen davon nichts wissen.
Den Eltern erzählt man sowas nicht
André und Dino, Frederik, Birgit und Jana sind nur einige der Kinder und Jugendlichen, die der Psychologin Christiane Tramitz ihr Herz ausschütteten. In ihrem Buch "Kindergeheimnisse" lässt sie diese selbst zu Wort kommen und über ihre Träume und Wünsche, ihre Sehnsüchte, Probleme und Ängste sprechen.
"Viele Sachen werden den Eltern eben nicht erzählt und auch nicht den Freunden," erzählt sie. "Das haben mir fast alle Kinder erklärt. Sie haben gesagt, manchmal ist es auch ein bisschen peinlich, wenn man Freunden sagt, wovon man träumt. Und Eltern sagt man in der Regel ab dem 13., 14. Lebensjahr diese geheimen Wünsche nicht mehr so gerne."
In der Pubertät läuft alles Mögliche schief
60 Kinder und Jugendliche aus ganz Deutschland hat Tramitz befragt, Heranwachsende aus ganz unterschiedlichen Familien, vom Oberschichtgirl bis zum Bauernbuben und Straßenkind. Ein fundierter repräsentativer Querschnitt der Befindlichkeit der Jugendlichen heute war freilich nicht beabsichtigt, sagt Tramitz.
Für Christiane Tramitz war es wichtig zu zeigen, dass die Pubertät ein Abschnitt ist, wo alles Mögliche schief läuft, egal wie gut das Elternhaus ist:
Das ist einfach eine Zeit, wo viel im Umbruch ist, und Umbruch bedeutet auch: Ich bin mit sehr vielen Problemen konfrontiert. Und ein Problem ist, dass man sich von den Eltern abkapseln will und den Eltern nicht mehr alles erzählen möchte.
Man hat's nicht leicht mit liberalen Eltern
Aber ist das denn eine neue Erkenntnis? War das nicht immer so? Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen den Pubertierenden heute und ihren Problemen und dem, wie Jugendliche früher sich verhielten?
Christiane Tramitz sieht zwei Hauptaspekte: Während früher oft lange Haare, lautes Musikhören und zerschlissene Jeans genügten, um die Erwachsenen gegen sich aufzubringen und sich gegenüber ihrer Welt zu behaupten, wird es heute immer schwieriger, sich abzugrenzen - gerade gegenüber Eltern, die sich liberal geben und alles verstehen.
"Das andere, wodurch sich die Jugend unterscheidet," zumindest wie Tramitz das erfahren hat, "ist diese ganz starke Rückzugstendenz ins Häusliche. Wir wollten weg, wollten die Welt kennen lernen. Und es manifestiert sich bei den Jugendlichen das, was in der Gesellschaft ohnehin schon festzustellen ist: die Angst vor dem, was draußen ist."
Nicht repräsentativ
"Kindergeheimnisse" ist ein über weite Strecken düsteres, desillusionierendes Buch. Kinder werden ungerecht behandelt und bloßgestellt, verprügelt und unter Hausarrest gestellt. Sie berichten über Magersucht und Kleptomanie, den Entzug von Zärtlichkeit und den Rausschmiss von zu Hause, über sadomasochistische Szenen im Elternhaus und Todesgedanken.
"Das Buch wirkt erstmal sehr negativ, weil vielleicht die, die mit mir gesprochen haben, sehr viel auf dem Herzen hatten," sagt Tramitz selbst. "Man darf das aber nicht verallgemeinern. Es sind keine repräsentativen Ergebnisse."
Verzicht auf Psychologendeutsch
Tramitz' Buch ist keine reine O-Ton-Collage. Reminiszenzen an die eigene Kindheit - die im Kontrast zum Kind-sein heute gesehen wird - und knappe Zusammenfassungen allgemeiner Erkenntnisse der Jugendforschung flankieren die gesammelten Selbstzeugnisse und Stimmungsberichte.
Das Buch ist gut lesbar, verzichtet auf langatmige Kommentare und hochtrabendes Psychologendeutsch, riskiert aber auch keine These. Tramitz liefert kein Resümee, kann aber doch den Eindruck nicht verhindern, dass die Kinder und Jugendlichen heute, die Elf- bis Achtzehnjährigen, oft trostlos allein und im Stich gelassen wirken.
Buch-Tipp
Christiane Tramitz, "Kindergeheimnisse. Die verborgenen Welten der Elf- bis Achtzehnjährigen", Droemer Verlag, ISBN 3426272814
Link
Droemer Knaur