Von der Schwierigkeit, sich zu trennen

Sich lieben

"Sich lieben" ist der Abgesang auf ein Paar, das auseinandergehen will, obwohl es den Grund dafür nicht nennen kann. Akribisch verzeichnet Toussaint die Stationen dieser Trennung und die Gefühle der Protagonisten, die zwischen Verlangen und Aggression schwanken.

Ein Mann, eine Frau, ein Hotelzimmer im nächtlichen Tokio. Die Frau liegt mit einer seidenen Schlafbrille auf dem Bett und weint. Der Mann, zugleich Ich-Erzähler des Buches, betrachtet das zerbrechliche Geschöpf auf den zerwühlten Laken.

Er weiß, dass die Pariser Modeschöpferin, mit der er sieben Jahre zusammen gelebt hat, auf dieser Reise ihre letzten gemeinsamen Liebesreserven verheizen wird. Er weiß, dass sie sich in Tokio trennen werden.

Ein Fläschchen Salzsäure

Ich hatte eine kleine Flasche mit Salzsäure füllen lassen und trug sie jetzt immer bei mir, mit der Idee, sie eines Tages jemandem mitten in die Visage zu schütten.

Mit diesen Worten beginnt der siebente Roman des belgischen Autors und Filmemachers Jean-Philippe Toussaint.

Zwischen Trauer und Wut, Zuneigung und Schmerz

Penibel folgt der Autor den Gefühlen seiner Protagonisten, die zwischen Trauer und Wut, Zuneigung und Schmerz, Verlangen und Aggression schwanken. Akribisch verzeichnet er die Stationen einer Trennung, in langen, schnörkellosen Sätzen, die oft über eine halbe Seite reichen und in einem - für Toussaint typischen - pointierten Kürzestsatz enden.

Ich hätte diese Träne von ihrer Wange schlürfen, mich auf ihr Gesicht fallen lassen und sie mit der Zunge auflecken können, ich hätte mich auf sie stürzen und ihre Wangen, ihr Gesicht und ihre Schläfen küssen, ihr die Stoffbrille wegreißen und ihr in die Augen sehen können, und sei es für einen winzigen Moment, einen Blick wechseln und sich verstehen, mit ihr eins werden in dieser Verzweiflung, die durch den geschärften Zustand unserer Sinne noch verstärkt wurde, ich hätte ihre Lippen mit meiner Zunge gewaltsam auseinander pressen können, um ihr zu beweisen, welch ungebrochener Schwung mich zu ihr hintrug, und wir hätten uns sicher, schweißgebadet, nicht mehr Herr unserer Sinne, in einer feuchten salzigen cremigen Umarmung aus Küssen, Schweiß, Speichel und Tränen verloren. Aber ich habe nichts getan.

Mit Liebe zum Detail

Den fotografischen Blick, die detaillierte Abbildung von Geschehnissen hat der 46-jährige Jean-Philippe Toussaint von den Vertretern des "nouveau roman" geerbt. In "Sich lieben" folgt Toussaint den Bewegungen seines Ich-Erzählers mit einer Genauigkeit, die an Banalität grenzt.

Ich knöpfte meine Hose auf und streifte sie längs meiner Oberschenkel ab, hob ein Bein, um sie an der Wade hinunterzuziehen, dann das andere, vorsichtig, um mich von dem Kleidungsstück zu befreien.

Das immateriellste aller Gefühle

"Nichts ist beständig, nichts ist fest, die Wirklichkeit ist unsicher", hat Jean-Philippe Toussaint einmal in einem Interview gesagt. Diese Feststellung könnte man dem vorliegenden Roman als Motto vorausschicken.

Die Liebe lässt sich nicht absichern, dieses "immateriellste aller Gefühle", so Toussaint, ist nicht gewappnet gegen die zerstörerische Arbeit der Zeit.

Scheiden tut weh

Der Autor, der schon in früheren Büchern seinen feinen Sinn für Ironie unter Beweis gestellt hat, lässt den Ich-Erzähler nach Kyoto flüchten. Dort stellt dieser fest, dass die Stunden ohne seine Geliebte leer und nutzlos sind. Er kehrt nach Tokio zurück, um dennoch die Trennung zu vollziehen und dazu das Fläschchen mit Salzsäure zu benützen, das den Roman wie ein roter Faden durchzieht. Allein: eine zarte Wiesenblume muss daran glauben, über die er die Flüssigkeit schüttet. Der geplante Zerstörungsakt verkümmert in einer kleinmütigen Tat.

Jean-Philippe Toussaint hat ein kleines, elegisches Buch über die Liebe geschrieben - vor allem aber: über die Schwierigkeit, damit aufzuhören.

Buch-Tipp
Jean-Philippe Toussaint, "Sich lieben", Frankfurter Verlagsanstalt 2003, ISBN 3627001079

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Jean-Philippe Toussaint