Zeuge des 20. Jahrhunderts

Als wär's ein Stück von mir

Es war mit deutlichem Abstand der Sachbuch-Bestseller des Jahres 1967: Carl Zuckmayers Autobiografie "Als wär's ein Stück von mir". Zuckmayers Erinnerungen an die ersten sechs Jahrzehnte europäischer Kultur des 20. Jahrhunderts sind neu erschienen.

Carl Zuckmayer wähnte sich schon im Paradies. Das Paradies hatte einen Namen und lag in Österreich, genauer: im salzburgischen Henndorft.

Wenn man mich damals gefragt hätte, wo das Paradies gelegen sei, so hätte ich ohne Zögern geantwortet: in Österreich, 16 Kilometer östlich von Salzburg an der Reichsstraße, dicht beim Wallersee.

Aus dem Henndorfer Paradies wurde Zuckmayer einer jüdischen Mutter im fernen Mainz wegen 1938 vertrieben. Im US-amerikanischen Exil in den grünen Bergen von Vermont, wo er sich als Farmer verdiente, entstand sein wohl berühmtestes Drama "Des Teufels General", eine Auseinandersetzung mit deutschen Mentalitäten des 20. Jahrhunderts. Es thematisiert die Mitschuld am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, eine Frage, die den ideologiefrei gebliebenen Dramatiker nicht mehr losließ.

Grundlage der Geschichtskatastrophe

Deutschland ist schuldig geworden vor der Welt. Wir aber, die wir es nicht verhindern konnten, gehören in diesem Weltprozess nicht unter seine Richter. Zu seinen Anwälten wird man uns nicht zulassen. So ist denn unser Platz auf der Zeugenbank, auf der wir Seite an Seite mit unseren Toten sitzen - und bei aller Unversöhnlichkeit gegen seine Peiniger und Henker werden wir Wort und Stimme "immer für das deutsche Volk erheben".

Überlegungen wie diese bilden den roten Faden durch die Autobiografie, die jenseits des "Who is Who" im europäischen Kulturleben auch für künftige Generationen eine ewige Fundgrube über das Hineingleiten Deutschlands in die Geschichtskatastrophe bleiben wird.

Hier hat ein Autor das Wesen des 20. Jahrhunderts begriffen. Wie wenige andere verstand er die Entwicklung des Zweiten Krieges aus dem Ersten heraus, aus einem fehlgeleiteten Nationalismus, einem falschen Begriff von Freiheit. Zuckmayer stellt luzide und richtige Fragen nach den Motiven für den nationalistischen Furor (Enthusiasmus) am Beginn des Ersten Weltkrieges, der auch die Besten des deutschen Geisteslebens erfasste.

Der "neue Mensch"

Immer wieder taucht die Frage nach der Rolle der Intellektuellen - seiner Rolle - im deutschen Nachkriegschaos auf. Auf der Suche nach der "neuen Zeit", dem "neuen Menschen", denn nur einen solchen konnte es für die Überlebenden des Ersten Weltkrieges geben, liebäugelte auch Zuckmayer mit den Ideen des Sozialismus. Doch in der Begegnung mit der linken Studentenschaft der Weimarer Republik erkannte er auch sich selbst, den Kreativen, den zu propagandistischen Schwarz-Weiß-Bildern Unfähigen.

Ich hatte bisher unter den Frankfurter Studenten nur kümmerliche Gestalten kennen gelernt. Ich misstraute den Mitgliedern des "Revolutionären Studentenrates" und der "Sozialistischen Arbeitsgruppe", in denen ich bereits die künftigen Bonzen, Parteisekretäre, Karrieremacher mit Pensionsberechtigung zu sehen glaubte.

Vorbild Georg Büchner

Der auch von der wissenschaftlichen Systematik gelangweilte Student Zuckmayer entschied sich für den Dramatiker. Kleine literarische Anfangserfolge wiesen den Weg. Zuckmayer ging nach Berlin. Er bewundert Brechts Talent, nennt ihn genial, schließt sich aber dennoch seinem agitatorischen Stil nicht an. Auch in manchen neuen Formen des Expressionismus erkennt er eine gesinnungshaft-pathetische Stilisierung, der die Kunst der Menschenzeichnung verloren zu gehen droht.

Sein großes Vorbild bleibt Georg Büchner, in dem er den echten Geist der Freiheit und der Revolution bewundert, ein vitaler Dramatiker, der Rebellion und Verantwortung zu verbinden vermochte. Mitte der 1920er Jahre fand Zuckmayer mit dem Lustspiel "Der fröhliche Weinberg" zu seinem eigenen Stil und feierte einen ersten großen Erfolg, obwohl das Stück zunächst niemand aufführen wollte. Auch seine Art des Kulturkampfes wurde als Provokation für den so genannten "gesunden Bürgersinn" empfunden. In der deutschen Provinz, die darin porträtiert wird, brachte es das Stück auf stolze 63 Theaterskandale, die seinen Erfolg freilich noch steigerten.

Carl Zuckmayer kehrte erst 1946 als Kulturbeauftragter des amerikanischen Kriegsministeriums nach Europa zurück. Zur neuen Wahlheimat wurden die Berge des Wallis, er selbst, der große deutsche Dramatiker, starb 1977 als Schweizer Staatsbürger. Am Ende seines Lebens stand nach wie vor die Frage nach dem politischen Auftrag des Künstlers, an der er selbst gewachsen war.

Die Rolle der Künstler

Es ist eine Autobiografie mit Ewigkeitswert als Dokument der Zeitgeschichte, ein großartig gezeichnetes Stück Prosa und eine Lebensbilanz nach der Frage des politischen Ortes der Kunst, eine Frage nach der Mitschuld.

Wir, die wir berufen gewesen wären, dem rechtzeitig entgegenzuwirken, haben zu lange gezögert, uns mit dem profanen Odium der Tagespolitik zu belasten, wir lebten zu sehr in der "splendid isolation" des Geistes und der Künste: Und so tragen wir, auch wenn wir dann zu Opfern der Gewalt oder zu Heimatvertriebenen wurden, genauso wie alle Deutschen an jener Kollektiv-Scham, die Theodor Heuss dem sinnlosen Anathema einer "Kollektiv-Schuld" entgegengesetzt hat.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Carl Zuckmayer, "Als wär's ein Stück von mir. Horen der Freundschaft", S. Fischer Verlag, ISBN 9783596172085