Urbane Vision oder Kopfgeburt?

Twin City

Zirka 60 Kilometer trennen Wien von Bratislava. Deshalb nennen sie sich "Zwillingsstädte". Seit dem Fall des Eisernen Vorhanges erstarkt Bratislava zusehends. Eine Schiffslinie auf der Donau verbindet die beiden: der Twin City Liner.

9:00 Uhr früh Wien-Donaukanal. Ausflügler und Touristen sammeln sich vor der Anlegestelle des Twin City Liners. Von Wien nach Bratislava am Wasserweg: Für die meisten ist das eine Premiere. Dabei verbindet der Schnellkatamaran die österreichische und slowakische Hauptstadt schon seit 2005 und lässt - so will es die auf Völkerverständigung setzende Werbung - Wien und Bratislava näher rücken.

Nach einem kleinen Unfall letzte Woche - der Katamaran rammte das Ufer des Donaukanals - ist der "Twin City Liner" nun wieder voll einsatzfähig. Vor allem am Wochenende biete sich Bratislava als Ausflugsziel an, meint der Kapitän. "Es ist eine praktische Sache mit unserer Fahrzeit von nur 75 Minuten. Ich sage immer, nur ein Motorrad ist schneller."

Neue Perspektiven nach dem Fall der Mauer

Wir wachsen zusammen, zusammen wachsen wir.

So lautet der Slogan eines Regionalentwicklungsprojekts, das den am nächsten beieinander liegenden Hauptstädten Europas eine besondere Rolle einräumt. Circa 60 Kilometer sind es, die Wien und Bratislava trennen. Bis 1989 eine unüberwindbare Distanz. Jenseits der Grenze war das Ende der westlichen Welt. Jahrzehntelang lagen historisch gewachsenen Beziehungen und Infrastrukturnetzwerke brach. Bis sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs neue Perspektiven ergaben: Es ist die Stunde der Twin City Wien Bratislava.

Rudolf Giffinger vom Institut für Stadt- und Regionalforschung der TU-Wien hat sich in Kooperation mit der Technischen Universität Bratislava mit dem Marketingkonzept Twin City auseinandergesetzt. Eine Formel, die mit dem Schlagwort: "Zwei Städte, ein Wirtschaftsraum" auf den Punkt gebracht werden kann. Denn auch wenn in Imagebroschüren, die sich der Twin City widmen, im Nachsatz, im Kleingedruckten sozusagen, der kulturelle Austausch neben dem wirtschaftlichen Austausch als identitätsstiftende Maßnahme empfohlen wird, ist die Twin City Wien Bratislava vor allem eines: das Produkt wirtschaftspolitischer Interessen.

Die Region entsteht im Kopf.

Das Tor zum Osten

Wenige Jahre nach der Wende gibt es auf beiden Seite der Grenze Interessensvertreter und Kommunalpolitiker, die das Twin-City-Konzept auf ihre Fahnen schreiben. Im internationalen Wettbewerb um Investoren soll die Kooperation der Städte Wien und Bratislava Standortvorteile bringen.

In den 1990er Jahren erkennt vor allem die österreichische Seite die Nähe zu den osteuropäischen Wachstumsmärkten als große Chance. Doch dass österreichische Unternehmen und Banken die großen Gewinner der Kooperation sind, lässt Peter Huber vom Wiener Wirtschaftsforschungsinstitut nicht gelten. Die Vermarktung als gemeinsamer Wirtschaftsraum sei für beide Standorte ein kluger Schachzug gewesen.

Verkehrstechnische Situation

Dass Wien und Bratislava heute weit davon entfernt sind, ein grenzüberschreitendes Städtekonglomerat zu sein, zeigt sich nicht zuletzt an der verkehrstechnischen Situation. Es war immer leicht, von Wien in den Westen zu kommen, und es war leicht, von Bratislava in den Osten zu kommen. Doch die Strecke zwischen Wien und Bratislava konnte zum Problem werden. Der Ausbau der Autobahn und auch das Prestigeprojekt "Twin City Liner" sind erste Vorstöße, diese historisch gewachsene Situation zu beheben. Doch wer mit dem Zug nach Bratislava fährt, muss immer noch den kleinen Umweg über Kittsee oder Marchegg in Kauf nehmen.

Es sei der Reiz des Auslandsstudiums, sagt Daniela, eine Studentin, der österreichische Universitäten attraktiv mache. Seit dem EU-Beitritt der Slowakei ist zumindest der Zugang zu Bildungseinrichtungen kein Problem mehr. Anders sieht es freilich am Arbeitsmarkt aus: Bis 2011 gelten Übergangsbestimmungen. Slowaken, die in Österreich arbeiten wollen, brauchen nach wie vor eine Arbeitsgenehmigung. Peter Huber vom Wiener Wirtschaftsforschungsinstitut ist aber überzeugt davon, dass die Mobilität zwischen den Städten Wien und Bratislava bald zunehmen wird.

Aufstrebende Stadt

Dass die Region zwischen Wien und Bratislava tatsächlich zusammenwachsen könnte, merkt man vor allem in Grenzgemeinden wie dem nur wenige Kilometer von der slowakischen Grenze entfernten Wolfsthal. Von der Hauptstraße aus hat man einen herrlichen Blick auf die Burg von Bratislava. Und mit dem Auto braucht man in die slowakische Hauptstadt gerade mal zehn Minuten. Trotzdem gab es jahrzehntelang kaum Grenzverkehr zwischen Wolfsthal und Bratislava.

Wolfsthal, Hainburg und andere österreichische Grenzgemeinden sind in den letzten Jahren ein beliebtes Ziel slowakischer Häuselbauer geworden - Wertschöpfung für Orte, die jahrzehntelang im toten Winkel von Wirtschaftspolitik und Regionalentwicklung gewesen sind. Seit dem Ende der k. k. Monarchie gingen die Bevölkerungszahlen von Wolfsthal sukzessive nach unten, jetzt kehrt sich dieser Trend um. Immobilien in Wolfsthal sind bei den slowakischen Nachbarn äußerst begehrt.

Die ehemalige Provinzstadt Bratislava verzeichnet, was das Bevölkerungswachstum und Bautätigkeit betrifft, die dynamischste Entwicklung ihrer Geschichte. Wird der Twin-City-Partner Wien zum Trittbrettfahrer der aufsteigenden Nachbarmetropole? Das anfangs asymmetrische Verhältnis zwischen den Zwillingsstädten Wien und Bratislava hat sich jedenfalls zugunsten Bratislavas verschoben. Bratislava hat Wien zwar noch lange nicht eingeholt, aber mächtig aufgeholt.

Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 1. August 2009, 17:05 Uhr

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Twin City Liner