Zum 100. Geburtstag von Claude Lévi-Strauss
Die Wahrheit liegt auf dem Schreibtisch
Der Strukturalismus, wie vertreten durch den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, ist so reizvoll wie umstritten. Wenn unbewusste Grundstrukturen die Erfahrungen und Erlebnisse bestimmen, was bedeutet das für den Handlungsspielraum der Einzelnen?
8. April 2017, 21:58
Heute da die polynesischen Inseln im Beton ersticken (...), da ganz Asien das Gesicht eines verseuchten Elendsgebietes annimmt, Afrika von Barackenvierteln zerfressen wird (...) - was kann die angebliche Flucht einer Reise da anderes bedeuten, als uns mit den unglücklichsten Formen unserer historischen Existenz zu konfrontieren?
Das schrieb Claude Lévi-Strauss (C L-S) in seinem wohl am leichtesten lesbaren Buch "Traurige Tropen", einem persönlichen Bericht über seine Forschungsreisen zu indigenen Gesellschaften im brasilianischen Mato Grosso Mitte der 1930er Jahre. Den um eine peinliche Elimination des Individuellen bemühten Objektivismus herkömmlicher ethnografischer Berichte durchbrechend, nimmt dieses Buch die Reise-Literatur des 18. Jahrhunderts wieder auf. Die poetischen und für die damalige Zeit mutig-subjektiven Reflexionen eines längst zu Ruhm und Ehre gelangten Wissenschaftlers wurden bei Erscheinen des Buches 1955 von der Literaturkritik wohlwollend begrüßt.
Fünf Monate bei "den Wilden"
Was uns die Reisen in erster Linie zeigen, ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben.
Diese Geißelung des Zerstörungswerks seiner eigenen Gesellschaft mutet rückblickend fast wie eine Entschuldigung dafür an, dass sich der Sohn eines Künstlers gemessen an seinem Ruf als einer der bedeutendsten Sozialanthropologen des vergangenen Jahrhunderts nur sehr wenig im Feld aufgehalten hat. Zu einer Zeit, als ethnographische Monografien über noch nicht entdeckte, fast ausgestorbene, zumindest aber exotische Völker hoch im ethnologischen Kurs standen und die oft mehrere Monate dauernde "teilnehmende Beobachtung" des britischen Funktionalisten Bronislaw Malinowski und seiner Schülerinnen und Schüler als ethnologische conditio sine qua non galt, brachte es der große C L-S insgesamt gerade einmal auf fünf Monate bei "den Wilden". Gemessen an über sechs Jahrzehnten regen Forscherlebens eine magere Ausbeute.
Für das Abenteuer gibt es im Beruf des Ethnographen schließlich keinen Platz, schreibt der gebürtige Belgier in den "Traurigen Tropen". Das angebliche Abenteuer beeinträchtige bloß die Arbeit durch das Ungemach verlorener Wochen und Monate, vieler Stunden, die müßig vergehen. Dazu komme noch Hunger, Müdigkeit, manchmal auch Krankheit.
Die Wahrheiten, nach denen wir in so weiter Ferne suchen, haben nur dann einen Wert, wenn sie von dieser Schlacke befreit sind.
Bedeutung der Feldforschung aufgewertet
Dennoch komme gerade C L-S das Verdienst zu, die Bedeutung der Feldforschung in der französischen Anthropologie entschieden aufgewertet zu haben, schreibt der deutsche Ethnologe Thomas Reinhart in einer neuen Einführung ins Lévi-Strauss'sche Werk.
Ja, weit davon entfernt, die ethnographische Methode zu verwerfen, hat er sie als einer der Ersten auch auf den Bereich der eigenen Gesellschaft erweitert und in diesem Zusammenhang eine ganze Serie von Feldforschungen seiner Studenten im Umland von Sao Paulo (wo er von 1934–37 als Professor für Soziologie lehrte, Anm. d. Verf.) und im Burgund angeregt.
Zuerst akribisch dokumentieren
Anthropologie, so stellt C L-S mehr als einmal klar, sei vor allem eine empirische Wissenschaft. Ihr Ziel müsse es sein, zunächst einmal akribisch zu dokumentieren, welche Aspekte der natürlichen Umwelt in den Rang kultureller Markierungen erhoben worden sind und wie sie sich in ihrer Gesamtheit zu einem kohärenten System fügen. Die Beschreibung geht dabei für Lévi-Strauss explizit dem Verstehen voraus.
C L-S hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er sich Letzterem widmen wolle, also den Beruf eines Schreibtisch-Anthropologen dem eines Datensammlers in moskitoverseuchten Lehmhütten vorziehe, obwohl er die exotischen Motivationen seiner Berufswahl - gepaart mit dem Gefühl großen Unbehagens in der eigenen Kultur - freimütig wie kein Anderer vor ihm zugegeben hat.
Ganz nüchterner intellektueller Gelehrter, verzichtet der Absolvent der Pariser rechtswissenschaftlichen Fakultät in den "Traurigen Tropen" auf (auflagensteigernde) erotische Bezüge, wie sie sein britischer "Widerpart" und Staranthropologe der Zwischenkriegszeit Bronislaw Malinowski im Titel seines wohl bekanntesten Buches vornimmt: "Das Geschlechtsleben der Wilden" machte den polnisch-stämmigen Südseeforscher fast schon zu einem Propheten der freien Liebe.
Während dieser in seinem 1967 veröffentlichen Tagebuch auch freimütig Einblick in seine tropische Depression gibt, in der sich moralische Appelle an die "Wilden" und Selbstanklagen abwechseln, hat Claude Lévi-Strauss seinen Gemütsverfassungen "nicht sonderlich viel Bedeutung zugemessen". Im Gegenteil: Den Existenzialismus seines ehemaligen Freundes Jean-Paul Sartre kritisiert er Mitte der 1950er Jahre als Beförderung persönlicher Sorgen in den Rang von philosophischen Problemen, die Gefahr laufe, "in einer Ladenmädchenmetaphysik zu enden".
Allgemeingültige, universelle Strukturen gesucht
Wo für Sartre der Mensch zuerst durch die Intentionalität seines Bewusstseins bestimmt ist, setzt Lévi-Strauss Regeln, Codes und Strukturen als Determinanten der menschlichen Existenz. Menschliches Handeln wird dabei in letzter Konsequenz als die oberflächliche Manifestation tieferliegender Strukturen begriffen.
"Das wilde Denken" - so der Titel eines seiner philosophisch einflussreichsten Werke - unterscheide sich nicht so sehr von modernen Anschauungen, wie die bis dahin (auch) im Dienste des Kolonialismus stehende Kultur und Sozialanthropologie annehmen konnte und (wohl auch) wollte. Dennoch blieb die Anwendung strukturalistischer Methoden auf die seinerzeit noch "primitiv" genannten "Gesellschaften ohne Geschichte" beschränkt, da sie zeitlos und statisch und daher leichter auf allgemeingültige, universelle Strukturen hin zu untersuchen seien als "fortgeschrittene Gesellschaften" - denn die stünden ja "in der Geschichte".
Interessanterweise sieht sich der wegen seiner Nichtberücksichtigung historischer Dimensionen immer wieder heftig Kritisierte in einem Interview aus dem Jahr 2006 "tief im Innern als Historiker", der allerdings davon ausgeht, dass man die Entstehung und die Funktionsweise einer Ordnung, in der sich verschiedene Realitäten manifestieren, nur zu begreifen vermag, wenn man genau weiß, aus welchen strukturellen Elementen sie zusammengesetzt sind.
Besinnung auf hermeneutische Grundlagen
In der postmodernen Ethnologie haben mathematische Modelle einer Kultur schon geraume Zeit ihren Reiz verloren. Weg von einem naturwissenschaftlichen Szientismus, zu dem auch der Strukturalismus gerechnet werden muss, besinnt sich die Kultur- und Sozialanthropologie auf ihre hermeneutischen Grundlagen. Neben den empirischen Daten ist auch der Prozess, wie sie entstanden sind, von Bedeutung.
Im Sinne eines solchen "Writing Culture"-Zugangs kann auch Claude Lévi-Strauss wieder entdeckt werden: nicht als Autor der "Elementaren Strukturen der Verwandtschaft", auch nicht als Schöpfer der monumentalen Tetralogie über die Mythen süd- und nordamerikanischer Indianer "Mythologica I-IV". Die "Traurigen Tropen" sind es, die von den schwer zu verstehenden und deshalb bisweilen ärgerlichen strukturalistischen Verrenkungen "entschlackt" den auch heute noch empfehlenswerten ethnologischen Schriftsteller Claude Lévi-Strauss ausmachen.
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 22. November 2008, 17:05 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Links
personenlexikon.net - Claude Lévi-Strauss
taz.de - Der wilde Denker