Als Cortot "Children's Corner" spielte

Children's Corner

Weihnachten ist auch stets die Zeit der großen Kinderaugen. Zeit der Kinder - im Bereich der Musik bedeutet das keineswegs eine Konzentration auf Weihnacht oder Kinderlieder. Denn Kindheit ist auf vielfältige Weise Gegenstand von Vertonungen gewesen.

Kinderlieder sind oft Volkslieder - überall auf der Welt - ob man in Italien "Ma come balli bella bimba" ("wie schön du tanzen kannst, mein kleines Mädchen") singt, in Frankreich "Sur le pont d' Avignon" oder in England "Orange and lemons". Oft beinhalten die Texte eine gehörige Portion Brutalität, wie das auch in den Volksmärchen oft der Fall ist. In letzterem haben die Kirchenglocken von London viel zu erzählen: Du bist mir fünf Groschen schuldig sagt die eine, wann zahlst du, die andere, wenn ich reich bin, sagt die nächst etc., bis die letzte von dem Beil erzählt, das dir den Kopf abhackt.

Da kommen die drei blinden Mäuse, deren Lied nicht nur den ersten James-Bond-Film einleitet (die drei Bettler in "Dr. No"), sondern das auch Agatha Christie ihrem Krimi "Die Mausefalle" als Motto vorangestellt hat, schon besser davon, ihnen werden von der Bäuerin nur die Schwänze abgeschnitten.

Opern für Kinder

Auch in der Oper singen und tanzen Kinder - nicht nur in Märchenopern, wie in "Händel und Gretel", die übrigens viel menschlichere Eltern zeigt, als die Version der Brüder Grimm, wo der Tod der Kinder billigend in Kauf genommen wird. Nehmen wir beispielsweise Georges Bizets "Carmen", in deren ersten Akt Kinder Soldaten spielen inklusive einer zünftigen Wachparade. All das spiegelt sich charmant und pointiert in der Partitur.

Weniger bekannt, aber nicht weniger charakteristisch in der Schilderung sind die vielen Kinderstücke, die Bizet für vierhändiges Klavierspiel geschrieben hat. Einige davon hat er für Orchester gesetzt und diese kleine Suite unter dem Titel "Jeux d'Enfant" veröffentlicht. 1873 war das - zwei Jahre vor der "Carmen"-Uraufführung. Auch in "Jeux d'Enfant" gibt es einen kindlichen Marsch, der offensichtlich kleine Soldaten schildert.

Eine französische Komponistengeneration später ist eine ganze Kinderoper entstanden ("L'enfant et les sortileges"), in der Maurice Ravel nach einem Buch von Colette ein faules, böses Kind musikalisch schildert, das seine Wut an den Gegenständen in seinem Zimmer auslässt und Tiere quält, bis der Zauberspuk einsetzt, die Dinge zu leben beginnen und schließlich das Kind langsam zur Einsicht kommt.

Russische Kinderstuben

Das erinnert an eine Szene aus dem siebenteiligen Liedzyklus "Die Kinderstube" von Modest Mussorgskij, der in seiner Oper "Boris Godunow" sogar eine unbeschwerte Kinderszene im Heim des Zaren musikalisch geschildert hat - vom Lied über "Mück' und Wanz" bis zum "Klatschhändchenspiel" erklingen Nonsens-Verse bis der Eintritt des Boris mit einem Schlag die sorglose Stimmung hinwegfegt.

Debussys Kritik

Das rücksichtslose Kind in Mussorgskijs Liedzyklus hat der Musikkritiker Claude Debussy mit folgenden Worten plastisch beschrieben: "Da ist auch der schreckliche Junge auf dem Steckenpferd, der das Zimmer in ein Schlachtfeld verwandelt: Hier zerbricht er den armen wehrlosen Stühlen eine Lehne, dort ein Bein, und dabei geht es nicht ohne eigene Blessuren ab! Drauf Geschrei und Tränen, die ganze Freude ist dahin! Aber so gefährlich war es nicht... ein Augenblick auf Mamas Schoß, ein Heile-heile-Segen-Kuss, und schon beginnt die Schlacht von neuem, und wieder wissen die Stühle nicht, wohin sie sich verkriechen sollen."

"Jazz" für Kinder
Claude Debussy hat auch die Kinderstube seines eigenen Hauses musikalisch verewigt, zunächst für sein Töchterchen. Die hatte eine englische Nurse, was damals zum guten Ton gehörte und die Bezeichnung "Childrens Corner" erklärt. Und jener Miss Dolly verdanken wir also, dass die Titel dieser sechs Klavierstücke in einer Sprache abgefasst wurden, die ihr Schützling gerade lernen sollte. "Für meine liebe, kleine Chouchou" beginnt die Widmung auf dem Titelblatt "mit allen zärtlichen Entschuldigungen des Vaters, für das was folgt…" Es folgt dann nicht nur Idyllisches wie "The snow is dancing", sondern auch Jazziges in - damals höchst ungewohnten - Synkopen, wie "Golliwogg's Cakewalk".

Kurz nach Debussys Tod kam der Pianist Alfred Cortot als Freund der Familie zu einem Kondolenzbesuch. Wie so oft in solchen Fällen fehlten die Worte. So setzte sich Cortot schließlich ans Klavier und spielte "Childrens Corner". Als er wieder die Hände von den Tasten nahm, war die Witwe in Tränen aufgelöst, und so wandte er sich verlegen an die Tochter Debussys und fragte, ob das so geklungen hätte, wie es ihr Vater gespielt hat. "Nein", meinte sie zögernd, "Vati hat sich beim Spielen mehr zugehört". Für Cortot wurde dieser Begriff des "Sich-Zuhörens" seither zu einem Schlüssel für die Interpretation impressionistischer Werke.

Hör-Tipp
Musikgalerie, Montag, 22. Dezember 2008, 10:05 Uhr