Dem Überfluss entkommen

Genug

Nach Weihnachten werden sich viele von uns wieder darüber ärgern, dass sie zu viel gegessen haben und sich für das neue Jahr vornehmen, dass es reicht. "Genug", meint auch John Naish, haben wir Menschen in den Industrieländern von allem.

Zu viel Information, zu viel Essen, zu viel Zeug, zu viel Stress, zu viel Produktion, zu viel Müll. Unsere Gesellschaft ist aus dem Ruder gelaufen und rast auf ihre Selbstzerstörung zu. Wir bringen uns selbst durch Übergewicht, Stress und psychische Überlastung um und wir zerstören den Planeten durch zu hohen CO2-Ausstoß, zu hohen Energieverbrauch, zu viele Abfälle und die Ausrottung ganzer Arten. Von außen betrachtet ist dieser Wahnsinn völlig unbegreiflich, weshalb der britische Journalist John Naish sein Buch "Genug" gleich mit einem etwas plakativen Bild beginnt.

Stellen Sie sich ein Raumschiff mit Außerirdischen vor, das in einigen Jahrhunderten die verbrannte Hülle der Erde umkreist. Vielleicht würden die Piloten angesichts dieser Zerstörung erschrecken. Wie sehr mussten die ehemaligen Bewohner dieses Planeten einst auf Konsum fixiert gewesen sein! So sehr, dass sie immer mehr herstellten und verbrauchten, bis sie zuletzt ihren eigenen Planeten verwüsteten! "Schön blöd, die Erdlinge", würden die Aliens sagen und ihre Köpfe schütteln. Und sollten unsere Besucher erfahren, dass wir umso missmutiger, kränker und erschöpfter geworden waren, je länger und verbissener wir nach Besitz strebten, dann würden sie sich ratlos am Kopf kratzen und fragen: "Was haben die sich bloß dabei gedacht?" Und einer der Klügsten würde hinzufügen: "Warum um alles in der Welt haben die Erdbewohner die Evolution verpasst?"

Archaischer Drang nach mehr

Genau das ist der Punkt, mit dem John Naish über 274 Seiten immer wieder begründet, warum der Mensch seine eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Das Problem ist unser Gehirn, dessen Basis sich im Pleistozän, das vor etwa 11.500 Jahren endete, entwickelt hat, und das sich nicht ausreichend schnell auf das heutige Leben einstellen konnte. In der Steinzeit gab es fast nie genug und so musste der Mensch stets nach Nahrung und Informationen gieren, sich möglichst gut an die Gruppe anpassen und Felle oder Nüsse horten. Dieser Drang nach immer mehr hat den Menschen überleben und zu einem komplexen, intelligenten und sozialen Wesen werden lassen. Allerdings kann er mit seinen Instinkten nicht mit den technischen Entwicklungen mithalten. Das ist aber auch kein Wunder, meint John Naish.

In der Steinzeit gab es lediglich eine paar Hundert handelbare Produkte, und Kapitalinvestitionen waren auf Werkzeuge wie Faustkeile beschränkt. In modernen Städten aber kann man zehn Milliarden verschiedene Dinge kaufen. Die meisten davon kamen in den letzten 250 Jahren auf, gleichzeitig mit dem System, das sie entwickelt, herstellt und verkauft. Das alles war ein bisschen viel für unsere arme alte Hardware.

Noch dazu, wo diese seit Jahrzehnten sehr gezielt von der Werbung attackiert wird.

Die Gier kennt keine Grenzen

John Naish hat für sein Buch gründlich recherchiert und Neuroökonomen, Hirnforscher, Psychologen und Ökologen aufgesucht. Er hat versucht, seine alten Möbel einer karitativen Organisation zu spenden, hat sich selbst beim Shoppen beobachtet und unzählige Ratgeber studiert, denn auch die Gier nach Selbstoptimierung kennt mittlerweile keine Grenzen mehr. Er hat auch absurde Formen des Überflusses und des "Nie Genug" aufgespürt, wie zum Beispiel den Trend zu All-You-Can-Eat-Restaurants oder eine Garage im Westen Londons, in der Ferraris, Aston Martins, Rolls-Royces und Bentleys geparkt, einmal wöchentlich poliert und alle zwei Wochen vor- und zurückgefahren werden, damit ihre Reifen keine Abplattungen bekommen, denn die Besitzer dieser Luxuskarossen hätten meist nicht die Gelegenheit, ihre Autos zu fahren, oder Angst, dass sie im Straßenverkehr einen Kratzer abbekommen könnten.

Abgesehen von solchen Auswüchsen, über die man befreiend lachen kann, fühlt man sich beim Lesen aber immer wieder ertappt, denn dem Drang nach Nachahmung, Konkurrenz und Protzerei und den tiefenpsychologisch optimierten Verlockungen der Werbung kann sich wohl niemand ganz entziehen. John Naish lässt die Leserin und den Leser aber nicht allein mit seiner Scham, er gibt auch Tipps, wie man dem "Zu viel" ein wenig entkommen kann, zum Beispiel beim Essen.

Lernen Sie wieder, zu genießen. Der Genuss ist das Herzstück in der Kunst des Genughabens. Genuss beim Essen eröffnet uns einen sicheren Weg, unsere Kalorienzufuhr zu begrenzen und uns für längere Zeit satt zu fühlen.

Datendiät empfohlen

Der Autor empfiehlt auch, für ein paar Stunden pro Tag oder zwei, drei Wochen pro Jahr eine Datendiät fern von Internet, Fernsehen und Mobiltelefon zu machen. Er verrät, dass man in einem hellen Raum weniger isst als bei schummrigem Licht und dass man in Fastfood-Lokalen deshalb so schlingt, weil unser Steinzeit-Gehirn bei Menschenansammlungen Angst hat, dass einem die anderen etwas wegnehmen.

Er empfiehlt, vor dem Kauf eines neuen Dings zu überlegen, wie viele Überstunden man dafür leisten müsste und nicht mit Kreditkarte zu bezahlen, weil man dann nachweislich bereit ist, mehr Geld auszugeben. Und er rät, sich mit dem zufrieden zu geben, was gerade gut genug ist.

Wenn Verzicht schick wird

Der Geltungsdrang und der Herdentrieb des Menschen könnten unter Umständen aber nicht nur eine Gefahr für ihn und den Planeten Erde sein, hofft der Autor, sondern auch helfen, einen neuen, nachhaltigen Lebensstil zu bewerben. Wenn ein protziges Auto als peinlich gilt, der Verzicht schick ist und Zeit wertvoller wird als Geld, dann könnte sich eine Kultur des Genughabens ausbreiten.

Am Ende hat John Naish noch einen überraschenden Rat: Dankbarkeit und Achtsamkeit könnten uns helfen, unsere wahren Bedürfnisse zu befriedigen, nämlich jene nach Gesundheit, sozialen Bindungen und einem spirituell erfüllten Leben.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
John Naish, "Genug. Wie Sie der Welt des Überflusses entkommen", aus dem Englischen übersetzt von Barbara Först, Verlag Ehrenwirt

Link
Ehrenwirt Verlag - Genug