Mörder mit Shakespeare auf den Lippen
Winter in Maine
Gerard Donovans "Winter in Maine" ist kein herkömmlicher Krimi, sondern eine Serienkiller-Geschichte im Gewand einer klassischen Novelle. Donovan zeichnet das Psychogramm eines Verlierers, der auf seine eigene Art und Weise Rache nimmt.
8. April 2017, 21:58
Maine, das ist der nordöstlichste Zipfel der USA. Direkt an der Grenze zu Kanada. 1,3 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 91.000 Quadratkilometern. Gut 7.000 mehr als Österreich aufweist.
Allein in einem Blockhaus in den Wäldern von Maine lebt Julius Winsome, der Held in Gerard Donovans Roman "Winter in Maine". Der Verlag hat das Buch des in den USA lebenden, gebürtigen Iren Donovan, ein studierter Techniker und klassischer Gitarrist, explizit nicht mit dem Signet "Kriminalroman" versehen. Und wenn man die Gattungsbezeichnung mit maximaler Strenge auslegt, dann ist der "Winter in Maine" auch kein Krimi in klassischem Sinne. Die Frage nach dem Täter, nach dem "Who dunit", die stellt sich hier nicht, denn von Anfang an ist klar, wer in den winterlichen Wäldern von Maine einen Jäger nach dem andern abknallt: Julius Winsome. Ein Serienkiller also, der mit einem alten Scharfschützengewehr, einer Lee-Enfield aus dem Ersten Weltkrieg, die mit High-Tech-Waffen und entsprechendem Zubehör ausgerüsteten Pirschgänger von nah und fern zur Strecke bringt.
Nicht so wie es scheint
Was aber hat Winsome, diesen Eremiten und Sonderling - als solcher gilt er zumindest in der nahegelegenen Kleinstadt Fort Kent - dazu gebracht die Flinte in die Hand zu nehmen? "Ich glaube, ich habe den Schuss gehört." So beginnt Gerard Donovans Roman. Am 30. Oktober - das Buch ist in Zeitetappen gegliedert, die sich über exakt eine Woche erstrecken - erschießt ein Unbekannter Winsomes Hund, einen alles andere als aggressiven Pitbullterrier. Keine 500 Meter vom Blockhaus entfernt. Was danach folgt ist ein Rachefeldzug oder das, was der Romanheld unter Rache versteht.
Hier ließe sich abbrechen und sagen: Das ist die berühmte Geschichte vom "Hund als treuesten Freund des Menschen", von Berufs- und Hobbyjägern, die auf alles ballern, was sich bewegt, und letztlich von einem Einzelgänger, der in der Wildnis und in der Einsamkeit seinen Verstand verloren hat, und nicht mehr in der Lage ist zwischen Mensch und Tier zu unterscheiden. Aber der Autor, Gerard Donovan, hat seine Jagdgeschichte doch um etliche Nuancen differenzierter und diffiziler entworfen.
Alle verloren
Julius Winsome, der Ich-Erzähler, ist kein irrer Hinterwäldler, wie man ihn aus diversen US-Filmen, in denen die unterliegende Zivilisation auf die gewalttätige Wildnis trifft, kennt: Winsome ist weder grobschlächtig noch gemein. Er ist hoch gebildet. An die 3.000 Bücher, das Erbe seines Vaters, machen die Bibliothek des Blockhauses aus. Mit Shakespeares Dramen und Sonetten ist der junge Winsome aufgewachsen, und das Englisch des William Shakespeare, das gibt er auch seinen sterbenden Opfern mit auf ihre letzten Wege.
Nimmt man alles zusammen, so zeichnet Gerard Donovan in seinem Roman zuerst einmal das Psychogramm eines Verlierers, einer Person, die in ihrem Leben einen Menschen nach dem anderen verloren hat: von der eigenen Familie bis zur kurzen Sommerliebe, einer Frau namens Claire, die danach einen Polizisten aus der Gegend heiratet. Am Ende - so ließe sich zynisch sagen - ist dieser Mensch auf den Hund gekommen, und als ihn auch noch dieser weggenommen wird, beginnt der Amoklauf.
Sympathischer Mörder
Wie gesagt, die Geschichte ist komplizierter, und der Autor versteht es mit seinem suggestiven Erzählstil, der von beeindruckenden Naturschilderungen unterfüttert wird, den Leser für jemanden einzunehmen, der unter anderem einen toten Hund zu betrauern, aber schließlich sechs Menschenleben auf dem Gewissen hat.
Fazit: Gerard Donovans "Winter in Maine" ist ein verstörendes Stück Literatur. Kein herkömmlicher Krimi, sondern eine Serienkiller-Geschichte im Gewand einer klassischen Novelle, die - wie man seit Goethe weiß - immer mit einer "sich ereigneten, unerhörten Begebenheit" zu beginnen hat.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Gerard Donovan, "Winter in Maine", aus dem Englischen übersetzt von Thomas Gunkel, Luchterhand Verlag