Neuer Roman von Don DeLillo
Der Omega Punkt
Ein junger Filmemacher möchte einen emeritierten Gelehrten, der mitten in der kalifornischen Wüste lebt, für einen Experimentalfilm gewinnen. Das ist der Ausgangspunkt von Don DeLillos vielschichtigem neuen Roman, in dem auch die Meta-Physis nicht zu kurz kommt.
8. April 2017, 21:58
Manchmal kommt Wind auf, vor dem Regen, und schickt Vögel am Fenster vorbei, vorbeisegelnde Vögel des Geistes, die auf der Nacht reiten, seltsamer als Träume.
Mit diesen äußerst poetischen Worten endet Don DeLillos neuer Roman "Der Omega Punkt". Und nur, wer den Roman bis zu seinen Schlusssätzen zu Ende gelesen hat, versteht diese Zeilen. Diese Zeilen - sie sprechen metaphorisch vom Menschen, von dem, was er sieht, zu glauben sieht, von dem, was er gedanklich zusammenfügt und dann zur Sprache bringt. Natur und menschlicher Geist sind eins - nein, sollten es sein! Alles, was durch des Menschen Sprache zusammengefügt wird, ist - jetzt - nur noch ein Traum in Raum und Zeit.
In der Hitze der Wüste
Das wahre Leben lässt sich nicht auf gesprochene oder geschriebene Worte reduzieren, von niemandem, niemals. Das wahre Leben findet statt, wenn wir allein sind, denken, fühlen, verloren in Erinnerungen, träumerisch unserer selbst bewusst, in submikroskopischen Momenten.
Diese Worte wiederholt in Abwandlungen der 73-jährige Richard Elster. Er ist ein Gelehrter von internationalem Renommee, und er hat während des Irak-Krieges für die amerikanische Regierung als geheimer Berater gearbeitet. Jetzt hat sich Elster in die Wüste Kaliforniens zurückgezogen, nach Anza-Borrego, eine der heißesten Gegenden in den USA. Dort besucht ihn der junge Filmemacher Jim Finley.
Finley möchte Elster für einen Experimentalfilm gewinnen: Der Gelehrte soll über seine Zeit im Pentagon während des Irakkkrieges erzählen. Es wird nur eine Einstellung geben, die auf Elster, und der Film wird ohne Schnitte auskommen. So soll sich der Raum verknappen, ja implodieren, während die Zeit im Film einer Endlosspule gleicht. Dieses Projekt wird aber niemals realisiert, erstens weil Elster zögert mitzumachen. Und dann taucht plötzlich Elsers Tochter Jessica in Anza-Borrego auf.
24 Hour Psycho
Don DeLillos schmaler hundert Seiten langer Roman wird von einer Anfangs- und Schlusssequenz umrahmt. Gezeigt wird Alfred Hitchcocks Film "Psycho" aus dem Jahr 1960. Allerdings als Videoinstallation des Künstlers Douglas Gordon. "24 Hour Psycho" wurde 2006 im New Yorker Museum of Modern Art eingerichtet.
Ähnlich wie im geplanten Film von Jim Finley über Elster rücken bei Douglas Gordon die Raumkoordinaten zusammen, während gleichzeitig die Zeit ins anscheinend Endlose gedehnt wird. Das steigert natürlich bei der berühmten Szene aus "Psycho", in der Janet Leigh von Anthony Perkins in der Dusche mit einem Messer erstochen wird, den Horror beim Zuschauer.
Aber was hat das alles mit DeLillos Roman zu tun? Erstens ist die bewusste Wahrnehmung von und in Raum und Zeit ein Handlungselement des Erzählten. Zweitens wird im Laufe des Romans klar, dass Richard Elster und Jim Finley gemeinsam die Videoinstallation "24 Hour Psycho" im Museum of Modern Art besucht haben.
Jessicas Verschwinden
Je länger Finley mit Elster zusammen ist, desto stärker wird der Eindruck, der junge Filmemacher sei eine Art "verlorener Sohn" für den Gelehrten. Und als Elsters Tochter Jessica auftaucht, verliebt sich der Filmemacher in die eher unscheinbare junge Frau. Das alles wird von DeLillo nur angedeutet, so dass der Leser nie genau weiß, ob es wahr ist, was er sich da beim Lesen zusammenreimt.
Und dann, eines Tages, verschwindet Jessica spurlos. Die Polizei sucht nach ihr, doch die Suche bleibt ergebnislos. Man findet bloß ein Messer. Was für ein Messer? Ist es das blutbefleckte Messer aus der berühmten Duschszene von Alfred Hitchcocks "Psycho"? Aber wie sollte es nach über 46 Jahren aus den Hollywood-Studios in die kalifornische Wüste gelangt sein? Und was hat das alles mit Jessica zu tun, die ihr Vater Richard Elster über alles liebt und in die sich Jim Finley anscheinend verliebt hat? Kann der Raum sich so sehr verengen? Kann Zeit sich so sehr dehnen? Ist das alles ein Alptraum?
Zeit in Endlosschleife
Am Ende von DeLillos Roman geht Jim Finley allein ins Museum of Modern Art und sieht sich nochmals die Videoinstallation "24 Hour Psycho" an. Da wird er von einer jungen Frau angesprochen. Nein, natürlich ist sie nicht Jessica. Aber der Raum ist so eng geführt, dass man verführt ist, es zu glauben. Und die Zeit schickt uns weiter und weiter, als wäre das, was wir erleben, in eine Endlosschleife gewoben.
Wir sind eine Menge, ein Schwarm. Wir denken in Gruppen, reisen in Armeen. Armeen tragen das Gen der Selbstzerstörung in sich. Eine Bombe ist nie genug. Im Nebel der Technologie, genau dort hecken die Orakel ihre Kriege aus. Denn jetzt kommt die Introversion. Pater Teilhard kannte den Omega-Punkt. Ein Sprung aus unserer Biologie hinaus. Stellen Sie sich mal diese Frage. Müssen wir immer menschlich bleiben?
Das Ziel ist die Liebe
Wer Don DeLillos Werke kennt, der weiß, dass Auslöschung, Krieg, moderne Kommunikation, Überwachen und das Leben in einer ziellosen Konsumgesellschaft Konstanten sind. So überraschen die Worte, die der Autor Richard Elster in den Mund legt ein wenig. Doch er nennt auch Pierre Teilhard de Chardin und dessen "Omega Punkt". Der Theologe, Philosoph und Naturwissenschaftler bettete die Theologie in ein durchaus evolutionäres Seinsmodell: Die Welt und wir, die wir in ihr leben, sind noch nicht am Ziel unseres Daseins angelangt. Ziel ist die Liebe, die Liebe, wie Jesus sie vorgelebt hat. Die Liebe Jesu ist das Ziel, der Punkt, das Omega.
Nun könnte es aber sein, dass Don DeLillo seinen Lesern und auch den Kritikern eine kleine Falle gestellt hat. Denn die Theorie vom "Omegapunkt" wurde vom amerikanischen Physiker Frank J. Tipler weiterentwickelt. Ein auf Nanotechnologie basierender Universums-Computer wird einst alle erdenklichen Wirklichkeiten und alle Menschen, die je gelebt haben, in einer virtuellen Welt auferstehen lassen. Gott selbst ist dieser Computer und da er uns liebt, lässt er uns eben auferstehen. Beim "Big Crunch", beim Endknall, bei dem das Universum förmlich auseinanderreißt, wird die Geschwindigkeit, also die Zeit, unendlich groß sein, während der Raum implodiert - hin zum ewigen Paradies. Das ist die zeitgemäße Theorie vom "Omega Punkt."
Meisterwerk der Sprache und des Denkens
Don DeLillos neuer Roman ist knapp hundert Seiten lang - aber die haben es in sich. Und bei aller Kritik an den bestehenden Verhältnissen, vergisst DeLillo nicht die Meta-Physis, die Transzendenz. Er ironisiert sie nicht, er bagatellisiert sie nicht, er lässt sie sein, während seine Protagonisten, also wir Menschen, in Raum und Zeit dagegen ankämpfen, was uns zu zerstören droht. Don DeLillos kleiner Roman "Der Omega Punkt" ist ein Meisterwerk der Sprache und des Denkens.
Der Roman verweigert die Kapitulation, obwohl er andauernd vom Verschwinden, von der Auslöschung in Raum und Zeit spricht. Gerade wegen der Meta-Physis weiß der Autor, dass sich nicht alles in Sprache festhalten lässt. Und dennoch gelingen ihm sprachliche Bilder, bei denen wir träumen dürfen, sie überdauerten Raum und Zeit.
Text: Andreas Puff-Trojan
Service
Don DeLillo, "Der Omega Punkt", aus dem Englischen übersetzt von Frank Heibert, Kiepenheuer & Witsch
Kiepenheuer & Witsch - Don DeLillo