Roman von Alfred Goubran

Aus

Welch förmliche Verachtung der geborene Grazer, in Kärnten aufgewachsene, in Wien lebende Autor für seine Geschichte übrig hat, macht er schon im ersten Satz seines neuen Romans "Aus" klar: Zwei Männer, langjährige Freunde, Münther und Muschg geheißen, marschieren da zu Fuß vom Wiener Zentralfriedhof draußen in Simmering bis in die Innenstadt.

Sie durchqueren diese und gehen schließlich noch bis zum Neuen AKH, zum Allgemeinen Krankenhaus Wiens weiter. Ein Gewaltmarsch quer durch Wien, der, das kann man als Ortskundiger sagen, bei forciertem Tempo mindestens drei Stunden benötigt. Bei halbwegs kommoder, üblicher Gangart eher fünf als vier Stunden.

Im genannten ersten Satz seines Romans lässt Autor Goubran seinen Proponenten Muschg nun sagen: "Ich weiß nicht, war es gestern oder vorgestern, dass ich mit meinem Freund Münther..." etc. - Das ist natürlich Unsinn. Kein Mensch, der halbwegs bei Verstand ist, kann sich unsicher darüber sein, ob er einen derartigen Gewaltmarsch nun gestern oder vorgestern unternommen hat. Das ist unmöglich. Aber sei's drum. Man soll einen Roman bekanntlich nicht an seinem Plausibilitätsgehalt messen.

Kein Gespräch

Für den einen der beiden passionierten Marschierer, Münther, ist die ausgedehnte Wanderung vom Zentralfriedhof zum Allgemeinen Krankenhaus eine Art Canossa-Gang. Hintergrund: Seine Frau, Anna, eine berühmte und gefeierte Schauspielerin der Wiener Theaterszene, hatte einen schweren Autounfall. Sie liegt seither in der Intensivstation des Krankenhauses im künstlichen Tiefschlaf, ihr Überleben ist alles andere als sicher. Zusätzlich war sie auch noch hochschwanger. Das Baby wurde der Verunfallten als Frühgeburt "aus dem Leib geschnitten", wie Autor Goubran formuliert, es überlebte im Brutkasten aber nur wenige Tage.

Vom Begräbnis eben dieser Tochter auf dem Zentralfriedhof wandert deren Vater also zurück ins AKH ans Krankenbett seiner mehr toten als lebendigen Ehefrau. Muschg begleitet ihn.

Die beiden sprechen auf dem langen Weg nicht miteinander, nicht ein Wort. Sie gehen neben einander, hinter einander her, jeder in seine eigenen Gedanken, seinen eigenen Erinnerungsstrom verwickelt. Daraus konstruiert Alfred Goubran eine Art stummen Dialog: Die Erzähllinien finden zueinander, überschneiden sich, berichten von Personen und Geschehnissen, oft gemeinsam erlebten, aus den jeweils unterschiedlichen Perspektiven der beiden Männer. Manches weiß der eine, aber der andere nicht, und umgekehrt. Bloß für den Leser ergänzen sich die Informationen unterschiedlicher Herkunft zum Gesamtbild.

Wiens Schickimicki

Dass und wie Autor Goubran diesen Fluss der Erinnerungsschnipsel steuert und verwebt, wie es ihm gelingt, aus den unterschiedlichen, lückenhaften Wissensständen und Erzählfragmenten seiner beiden Geher das Geschehen zu formen, die Lebensgeschichten seiner Hauptfiguren muss man ohne Einschränkungen - so viel vorweg - als meisterhaft bezeichnen, als – literarisch-technisch – faszinierend.

Inhaltlich geht's dabei einerseits um die Wiener Theater- und Kulturszene, um stolze Theaterdirektoren und begabte oder auch weniger begabte Debütantinnen und die sprichwörtliche Besetzungscouch, um Theater-Diven und korrupte Journalisten und Rezensenten, um Intrigen und wechselseitige Denunziationen der durchwegs im Lichte der Öffentlichkeit stehenden Personage. Um ein Fegefeuer der Eitelkeiten, wie man es nennen könnte. Einerseits.

Andererseits geht's um die Familien- und Firmengeschichten bekannter österreichischer Industrieunternehmen, auch etwa um deren Verwicklung in die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Profite, die sie aus ihrer Nähe zum NS-Regime zogen.

Zahlreiche Anspielungen auf real existierende Personen und Unternehmen in Wien und Österreich sind in beiden Fällen – der Wiener Kulturschickeria und der heimischen Firmenlandschaft und ihren "besseren Familien" – offensichtlich und müssen hier nicht näher erläutert werden. Jeder Leser kann sie selbst nachvollziehen.

Seitenhiebe

Eine wesentliche Rolle in den Gedanken der beiden marschierenden Männer, Muschg und Münther, spielt dabei ein gemeinsamer, etwa ein Jahr zuvor unter ungeklärten Umständen verstorbener gemeinsamer Freund, Aumeier genannt, der als eine Art strenger Richter auftritt, der die beschriebenen Bösartigkeiten und Gemeinheiten entlarvt und erklärend kommentiert.

Das ist alles sehr löblich. Selbstverständlich ist es eine vornehme Aufgabe der Literatur, das Hinterhältige und Abgründige zu thematisieren, das sich unter der Oberfläche einer gutbürgerliche und saturierten, wohlgefälligen Gesellschaft verbirgt, in der der Schein mehr zählt als das Sein, der gute Ruf mehr als das wirklich gute Benehmen, das weiße Sakko mehr als die angepatzte Weste, die darunter versteckt wird.

Alfred Goubrans Problem ist, dass seine Attacken, Vorwürfe und Weltanklagen von extrem unterschiedlicher Qualität sind, ein geradezu frappierendes Phänomen an diesem Roman. So wie der Autor seine Personage manchmal genau beobachtet und brillant entlarvt, so verfällt er an anderer Stelle seinerseits in Binsenweisheiten und abgeschmackte Klischees. Er bekämpft in diesen Passagen gleichsam das Klischee mit dem Klischee, die Kolportage mit der Kolportage. Erstaunlich daran ist das einerseits hohe Niveau der besseren Teile und die unglaubliche Seichtigkeit der schlechteren.

Hoch und tief

Es kommt selten vor, dass man beim Lesen eines Buches an manchen Stellen laut "großartig" rufen möchte, an anderen Stellen wiederum geradezu ärgerlichen "Müll" oder "Unsinn" konstatiert. So hinterlässt Alfred Goubrans Roman nicht bloß einen zwiespältigen Eindruck, sondern einen fast schon schizophrenen Eindruck: Man glaubt gar nicht, dass ein und derselbe Autor das Eine wie das Andere gleichermaßen geschrieben hat.

Insgesamt darf man vielleicht sagen, dass die eindeutig brillanten Teile von Goubrans Roman die ebenso eindeutig misslungenen aufwiegen und das Buch letztlich doch eine lohnende Lektüre ist.

Service

Alfred Goubran, "Aus", Braumüller Literaturverlag

Braumüller - Alfred Goubran