Thomas Miessgang über den Begriff "Retro"

Etymologische Exkursion

"Brand new, I'm retro" - so lautete ein Songtitel des Trip-Hop-Düstermannes Tricky in den mittleren neunziger Jahren. Natürlich war das ironisch - tongue in cheek - wie die Engländer sagen. Andererseits kann man in der Zeile durchaus auch ein Manifest sehen.

Retro war zu diesem Zeitpunkt im kulturellen Feld bereits geradezu flächendeckend präsent - allerdings schwerlich als neues Phänomen zu bezeichnen. Schon seit den frühen achtziger Jahren waren zahlreiche rückwärtsgewandte Moden durchgereicht worden: Pettycoat und Bundfaltenhose wurden als Zitate aus den Fünfzigern mit neuer Hipness aufgeladen, das Rockabilly-Revival, verkörpert von Bands wie den Stray Cats, schlug in die gleiche Kerbe. Architekten wie Robert Venturi, Philipp Johnson sowie James Stirling propagierten lautstark eine eklektizistisch-postmoderne Architektur, bildende Künstler präsentierten eine neue Deutungsvariante der expressionistischen Malerei vom Beginn des 20. Jahrhundert. Dazu kommen Phänomen wie Retrogaming mit prähistorischen Konsolen von Nintendo oder Atari oder Retro-Sport, zu dessen Ausübung Vintage Clothing von Adidas bis Nike verwendet wird.

Und das geht so weiter bis zum heutigen Tag: Revival der Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts etwa durch Christian Kracht, Wiederauflage des Silent Movies im oscargekrönten Film "The Artist", das gefühlte zehnte Swing-Revival, aktuell verkörpert durch das Geschwister-Trio Kitty, Daisy and Lewis.

Geschichte als Parodie. Mythen in Tüten. Welcome to the Pleasuredome!

Retro als kulturelles Leitmotiv einer Epoche, der die Innovationen abhandengekommen scheinen, ist ein Phänomen der letzten 30 Jahre, der Begriff selber reicht allerdings viel weiter zurück: Sprachgeschichtlich gesehen leitet sich das Wort vom gleichlautenden lateinischen Präfix her. In den populären Gebrauch gelangte es in den sechziger Jahren im Kontext der amerikanischen Raumfahrt, wo mit Retrorocket das Prinzip des Rückstoßes beschrieben wurde. In Frankreich hingegen meinte Rétro eine retrospektive politische Aufwertung der Rolle von Charles de Gaulle und des französischen Widerstandes im Zweiten Weltkrieg.

Die Begrifflichkeit war somit spätestens seit den 1970er Jahren vorgestanzt. Jetzt mussten sich nur noch die Phänomene formen, die eine allumfassende Retromania auslösen konnten.

Doch wie kam es zum Kippen des Innovationsparadigmas, das das gesamte 20. Jahrhundert beherrscht hatte? Warum wurde die Sucht nach dem Neuen, die Lust auf das Unbekannte und eine leuchtende Zukunft durch das Recycling und den Remix traditioneller kultureller und zivilisatorischer Stile und dem damit einhergehenden Versprechen auf existentielle Behaustheit in erprobten und authentischen Lebenswirklichkeiten abgelöst?

Es mag mit jenem "Future Shock" zu tun haben, der durch den Bericht des Club of Rome im Jahr 1972 ausgelöst wurde, in dem erstmals die Grenzen des Wachstums thematisiert wurden. Die Ölkrise ein Jahr später lieferte dann das praktische Beispiel zum theoretischen Befund. Höhepunkt und Apotheose der menschlichen Zukunftsgläubigkeit war die Mondlandung im Jahr 1969. Danach ging es mit der Vorstellung von der Grenzenlosigkeit menschlichen Strebens tendenziell bergab. Für jene politische und ökonomische Disposition, die der Soziologe Gerhard Schulze als "Steigerungsspiel" bezeichnet - die hyperkapitalistische Besessesenheit von Mehrwert und Zuwachs - schien sich ein "Game over" abzuzeichnen. Mit Jean Baudrillard sprach man nun von Dystopie statt Utopie, beklagte den Verlust des Realen und ließ sich von der Furie des Verschwindens hetzen. "The Future's so bright, you gotta wear shades" propagierte ein Song der Band Timbuk 3 in den achtziger Jahren mit kaum verhülltem Zynismus.