Lola Bensky
"Lola Bensky" mutet auf den ersten Blick an, als wäre es ein autobiografisches Buch. Jedoch ist es Fiktion, wie Lily Brett in einem Interview betonte, mit vielen Parallelen. Sehr vielen sogar. Wie ihre Romanheldin kam die Autorin kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland auf die Welt. Ihre Eltern wurden in Ausschwitz getrennt, überlebten, fanden einander wieder und emigrierten nach Australien.
8. April 2017, 21:58
Ein Leben zwischen Promis
Sowohl Lily als auch Lola verpassten ihren Highschoolabschluss, weil sie sich im Kino Hitchcocks Film "Psycho" ansahen. Und beide arbeiteten mit 19 für ein australisches Musikmagazin - der Eintritt in die glamouröse Welt des Rock n´Roll. Lily Brett hatte in den 1960er Jahren zahlreiche Stars der Szene interviewt: The Kinks, The Who, Sonny und Cher, The Mamas & The Papas, die Rolling Stones oder auch Jimi Hendrix. Fast alle sind Protagonisten in ihrem Roman. Gleich auf den ersten Seiten beschreibt sie, wie Lola den damals erst am Beginn seiner Karriere stehenden Jimi Hendrix interviewt.
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Für jemanden, der sich auf der Bühne mit seinem Körper uns seiner Stimme so unverfroren, unmissverständlich und hemmungslos ausdrückte, war Jimi Hendrix´ Sprache überraschend zögerlich. Für einen Mann, der mit so energiegeladener Dringlichkeit seine Gitarrensaiten zupfte und streichelte, war Jimi Hendrix unerwartet bedächtig. Er sprach langsam und seine Stimme war leise. Er dachte nach, ehe er ihre Fragen beantwortete. Er sprach verhalten, stockend, seine Worte kamen in Gruppen von dreien oder vieren aus seinem Mund. (…) Es gab vieles an Jimi Hendrix, das ganz normal wirkte, dachte Lola. Ein Gefühl der Demut umgab ihn. Sein Hit "Hey Joe" stand in dieser Woche in London auf Platz vier der Charts des Melody Maker. "Purple Haze" kam nächsten Monat heraus. Rockstars strömten zu seinen Auftritten.
Diäten und Speed
Lola unterhält sich mit Jimi Hendrix über Lockenwickler und Haareglätten, Mick Jagger macht ihr Tee, nachdem sie ihm vom Aufenthalt ihrer Eltern in Ausschwitz erzählt hat. Mit Barry Gibb von den Bee Gees geht sie Anzüge einkaufen, Cher leiht sie ihre falschen Wimpern, mit Janis Joplin und Mama Cass diskutiert sie über das Dicksein. Denn Lola ist übergewichtig und denkt ständig übers Abnehmen nach. Auch das ist eine Parallele zu Lily Brett. Ihre Mutter setzte sie von Kindheit an auf Diät, wenn sie ihr zu pummelig erschien - mit einem Argument, das jedes Gegenargument im Keim erstickte: "Im Lager waren nur die Aufseher gut genährt." Das hat Lily Brett geprägt. Kein Wunder also, dass dieses Thema in allen ihren Romanen eine Rolle spielt. In "Lola Bensky" beschreibt sie sehr ausführlich den Umgang der Protagonistin mit ihrem Übergewicht - auf humorvolle Art, doch die Verzweiflung ist deutlich spürbar.
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"Meistens bin ich ziemlich beschäftigt", sagte Lola zu Janis Joplin. "Ich mache meine Interviews, verabrede noch mehr Interviews, schreibe die Artikel, und dann plane ich meine Diäten." "Lieber Himmel", sagte Janis Joplin. "Du planst Diäten?" Janis Joplins Reaktion überraschte Lola. Nicht, weil Janis Joplin sich wunderte, dass Lola Diäten plante. Lola wunderte sich über den Ausdruck, den Janis Joplin verwendet hatte. "Lieber Himmel." Das klang so prüde. Und an Janis Joplin war überhaupt nichts prüde. "Ja", sagte Lola. "Ich plane ständig Diäten." "Speed könnte dir bei deiner Diät helfen", sagt Janis Joplin. "Mich möbelt es auf." "Ich glaube, ich muss einfach weniger essen", sagte Lola. "Speed befriedigt viele Bedürfnisse", sagte Janis Joplin.
Erinnerungen an dunkle Zeiten
Mit Anfang Zwanzig lässt Lola Bensky die Rockszene hinter sich, kehrt nach Australien zu ihren Eltern zurück, heiratet einen Ex-Rockstar, der zum Beamten wird, bekommt zwei Kinder und mit Anfang Dreißig plötzlich Panikattacken. Die tragische Vergangenheit ihrer Eltern hat Spuren hinterlassen. Immer wieder tauchen Erinnerungsfetzen auf, Beschreibungen, wie Lolas Eltern oder andere KZ-Insassen misshandelt wurden. Erlebnisse, die sich auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirken. Lolas Mutter ist mit ihren Gedanken meistens abwesend, unnahbar, distanziert. Und nimmt von der Tochter offenbar nur dann Notiz, wenn ihr diese zu dick erscheint.
Lolas Vater schimpft auf den jüdischen Glauben, Gott existiert für ihn nicht mehr. Es ist Lola verboten, in eine Synagoge zu gehen. Trotzdem herrscht anfangs Entsetzen, als sie einen Nicht-Juden heiratet - und ihn später für einen anderen verlässt. All das zieht sich durch den Roman: zwischen den einzelnen Interviews mit den Stars schweift Lola immer wieder zu ihrer eigenen Familiengeschichte ab und zieht Vergleiche zu den Biographien ihrer Gesprächspartner. Sie versucht zu verstehen, wie andere Menschen ticken, was sie bewegt und was sie geprägt hat. Das ist auch die große Stärke des Buchs: Lily Brett beschreibt alle Charaktere so lebendig, dass man das Gefühl hat, neben ihnen zu sitzen. Man wünscht sich, ebenfalls Gespräche mit Jimi Hendrix, Mick Jagger und Janis Joplin führen zu können. Und man verabscheut Pete Townshend von The Who und Jim Morrison ebenso sehr wie Lola es tut.
Eine Frage bleibt allerdings offen: Lola wird am Anfang des Romans von Mick Jagger eingeladen, gemeinsam mit ihm Paul McCartney zu treffen. Sie sagt zu, doch es wird nicht weiter erwähnt, ob sie diese Einladung auch wahrgenommen hat. Als Beatles-Fan hätte man die Beschreibung dieses Zusammentreffens gerne gelesen. Davon abgesehen ist "Lola Bensky" eine wunderbare Hommage an die Musiklegenden der 1960er und eine berührende Familiengeschichte. Und beim Lesen der letzten Seiten könnte einem "Time is on my side" von den Rolling Stones im Kopf ertönen, wenn Lola mit 67 Jahren noch einmal Mick Jagger begegnet.