Erzählungen aus Utoya
Die Tage danach
Es waren 189 Minuten, die Norwegen ein für alle mal veränderten. Am 22. Juli 2011 zündete Anders Behring Breivik um 15 Uhr 25 Minuten und 22 Sekunden im Osloer Regierungsbezirk eine Autobombe. Dann fuhr er in dem daraus resultierenden Chaos auf die Insel Utoya und erschoss dort bis 18 Uhr 34 insgesamt 68 Jugendliche.
8. April 2017, 21:58
"Die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg" nennt Erika Fatland diese Anschläge. Jeder Norweger und jede Norwegerin wird sich für immer daran erinnern, wo er an jenem Tag war und was er zu dieser Zeit getan hat, so die Autorin.
Persönlich betroffen
Erika Fatland selbst hatte zu diesem Zeitpunkt gerade ihre Masterarbeit in Sozialanthropologie fertig gestellt. Sechs Jahre lang hatte sie sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche Nachwirkungen ein Terroranschlag auf die Bevölkerung hat. Fatland arbeitete über den Anschlag auf die Schule Nummer 1 in nordkaukasischen Beslan, wo 2004 bei einer Geiselnahme 333 Menschen - die meisten davon Kinder - getötet wurden. Und nun, als sich Fatland von ihrer strapaziösen Arbeit in Portugal erholen wollte, hörte sie, welch monströser Terrorakt gerade in ihrer Heimat von statten ging.
Erika Fatland war auch persönlich betroffen, befand sich doch ihr Cousin Lars auf der Insel. Lars wurde von Anders Breivik in den Rücken geschossen, schaffte es aber, sich in Sicherheit zu bringen. Die Geschichte über ihren Cousin Lars ist eine der wenigen in diesem Buch, die ein Happy-End hat.
Zitat
Lars blieb zehn Tage im Krankenhaus. Mit jedem Tag ging es ihm besser. Eine Operation blieb ihm erspart, dafür wird er für immer Kugelsplitter in seinem Körper tragen. Die Splitter sind so klein, dass es unmöglich und auch sinnlos ist, sie operativ zu entfernen. Später erfuhr Lars, dass die Zeit für seine Rettung äußerst knapp gewesen war. Wäre er nur 15 Minuten später ins Krankenhaus gekommen, hätte er vermutlich nicht überlebt.
Gespräche mit Überlebenden
Norwegen befand sich an jenem 22. Juli in einem Zustand der Verwirrung. Was hatte der Bombenanschlag auf das Regierungsviertel zu bedeuten? Wie sollte man darauf reagieren? "Wir befinden uns am sichersten Ort überhaupt, auf einer abgelegenen Insel", versuchte die Leiterin des Camps die Jugendlichen auf Utoya zu beruhigen. Eine folgenschwere Fehleinschätzung, wie sich bald darauf herausstellen sollte.
Erika Fatland reiste für ihre Reportage durch ganz Norwegen. Sie sprach mit Überlebenden, Angehörigen, Betroffenen und Hinterbliebenen. In ihrem mehr als 500 Seiten starken Buch zeichnet sie minutiös die Ereignisse des 22. Juli nach. Sie springt in ihrem Text zeitlich vor und zurück und berichtet auch über den Prozess gegen den Attentäter.
Zitat
Am Wochenende, bevor die Hauptverhandlung beginnt, sind Hotelzimmer in der Hauptstadt mit ausländischen Journalisten gefüllt. Normalerweise ist die Freude groß, wenn ausländische Journalisten unser Land besuchen, doch dieses Mal liegen die Dinge anders. Das Eintreffen der Korrespondenten wird in den Hauptstadtzeitungen traurig kommentiert.
Aus dem eiskalten See gerettet
"Mitten im See" ist wohl eines der beeindruckendsten Kapitel des an beeindruckenden Szenen nicht armen Buches. Während Breivik auf Utoya die Jugendlichen erschoss, versuchten viele zu flüchten, in dem sie in den eiskalten See sprangen. Vom Ufer aus sahen das einige Gäste und sofort machten sie sich unter Lebensgefahr daran, die Schwimmenden mit ihren Booten zu retten. Fatland berichtet über Erik und Otto. Zusammen haben die beiden mehr als 40 Jugendliche aus dem Wasser gezogen.
Zitat
"Ich kann es nicht so sehen, dass ich Leben gerettet habe. Ich kann nicht stolz sein", sagt Erik und sieht aus dem Fenster. Seit dem Massaker ist fast ein halbes Jahr vergangen, als ich ihn in seiner Wohnung treffe, aber die Erinnerungen sind nach all den Wochen und Monaten nicht erträglicher geworden. "Ich erinnere mich nur allzu gut an alle, die wir nicht retten konnten", sagt er. "Ich höre sie weinen und schreien. Wir hatten ja nicht für alle Platz."
Erika Fatland erzählt in ihrem Buch kaum Neues über die Anschläge vom 22. Juli. Zu genau haben die weltweiten Nachrichten über jedes Detail berichtet. Aber dadurch, dass die Autorin genau hinhört, ihren Interviewpartnern einfühlsam die richtigen Fragen stellt und die Betroffenen ausführlich zu Wort kommen lässt, sind ihre "Erzählungen aus Utoya" ein zutiefst berührendes Buch. Eines, das ohne falsches Pathos und ohne moralische Entrüstung zeigt, wie die Taten vom 22. Juli 2011 jeden Einzelnen und eine ganze Nation verändert haben.
Service
Erika Fatland, "Die Tage danach. Erzählungen aus Utoya", übersetzt von Ina Kronenberger und Stephanie Elisabeth Baur, Btb Verlag
Btb - Die Tage danach