Erzählungen aus Utoya

Die Tage danach

Es waren 189 Minuten, die Norwegen ein für alle mal veränderten. Am 22. Juli 2011 zündete Anders Behring Breivik um 15 Uhr 25 Minuten und 22 Sekunden im Osloer Regierungsbezirk eine Autobombe. Dann fuhr er in dem daraus resultierenden Chaos auf die Insel Utoya und erschoss dort bis 18 Uhr 34 insgesamt 68 Jugendliche.

"Die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg" nennt Erika Fatland diese Anschläge. Jeder Norweger und jede Norwegerin wird sich für immer daran erinnern, wo er an jenem Tag war und was er zu dieser Zeit getan hat, so die Autorin.

Persönlich betroffen

Erika Fatland selbst hatte zu diesem Zeitpunkt gerade ihre Masterarbeit in Sozialanthropologie fertig gestellt. Sechs Jahre lang hatte sie sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche Nachwirkungen ein Terroranschlag auf die Bevölkerung hat. Fatland arbeitete über den Anschlag auf die Schule Nummer 1 in nordkaukasischen Beslan, wo 2004 bei einer Geiselnahme 333 Menschen - die meisten davon Kinder - getötet wurden. Und nun, als sich Fatland von ihrer strapaziösen Arbeit in Portugal erholen wollte, hörte sie, welch monströser Terrorakt gerade in ihrer Heimat von statten ging.

Erika Fatland war auch persönlich betroffen, befand sich doch ihr Cousin Lars auf der Insel. Lars wurde von Anders Breivik in den Rücken geschossen, schaffte es aber, sich in Sicherheit zu bringen. Die Geschichte über ihren Cousin Lars ist eine der wenigen in diesem Buch, die ein Happy-End hat.

Gespräche mit Überlebenden

Norwegen befand sich an jenem 22. Juli in einem Zustand der Verwirrung. Was hatte der Bombenanschlag auf das Regierungsviertel zu bedeuten? Wie sollte man darauf reagieren? "Wir befinden uns am sichersten Ort überhaupt, auf einer abgelegenen Insel", versuchte die Leiterin des Camps die Jugendlichen auf Utoya zu beruhigen. Eine folgenschwere Fehleinschätzung, wie sich bald darauf herausstellen sollte.

Erika Fatland reiste für ihre Reportage durch ganz Norwegen. Sie sprach mit Überlebenden, Angehörigen, Betroffenen und Hinterbliebenen. In ihrem mehr als 500 Seiten starken Buch zeichnet sie minutiös die Ereignisse des 22. Juli nach. Sie springt in ihrem Text zeitlich vor und zurück und berichtet auch über den Prozess gegen den Attentäter.

Aus dem eiskalten See gerettet

"Mitten im See" ist wohl eines der beeindruckendsten Kapitel des an beeindruckenden Szenen nicht armen Buches. Während Breivik auf Utoya die Jugendlichen erschoss, versuchten viele zu flüchten, in dem sie in den eiskalten See sprangen. Vom Ufer aus sahen das einige Gäste und sofort machten sie sich unter Lebensgefahr daran, die Schwimmenden mit ihren Booten zu retten. Fatland berichtet über Erik und Otto. Zusammen haben die beiden mehr als 40 Jugendliche aus dem Wasser gezogen.

Erika Fatland erzählt in ihrem Buch kaum Neues über die Anschläge vom 22. Juli. Zu genau haben die weltweiten Nachrichten über jedes Detail berichtet. Aber dadurch, dass die Autorin genau hinhört, ihren Interviewpartnern einfühlsam die richtigen Fragen stellt und die Betroffenen ausführlich zu Wort kommen lässt, sind ihre "Erzählungen aus Utoya" ein zutiefst berührendes Buch. Eines, das ohne falsches Pathos und ohne moralische Entrüstung zeigt, wie die Taten vom 22. Juli 2011 jeden Einzelnen und eine ganze Nation verändert haben.

Service

Erika Fatland, "Die Tage danach. Erzählungen aus Utoya", übersetzt von Ina Kronenberger und Stephanie Elisabeth Baur, Btb Verlag

Btb - Die Tage danach