Wenn Kinder ganz anders sind als ihre Eltern
Weit vom Stamm
Normalerweise schreibt der Andrew Solomon für Blätter wie die "New York Times" und den "New Yorker", für sein 1.100 Seiten dickes Buch hat er 300 Elternpaare interviewt, deren Kinder anders, ganz anders sind als sie. In seiner Jugend habe er selber Ausgrenzung und Mobbing erlebt, sagt Solomon, das habe ihm geholfen, dieses Buch zu schreiben.
8. April 2017, 21:58
"Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind". Von diesem Untertitel fühlen sich gewiss die meisten Eltern angesprochen, denn welche Mutter, welcher Vater wundert sich nicht dann und wann über das Verhalten der Kinder. Denn, also wirklich, so stur, widerwillig, eigensinnig, faul etc. etc. sei doch sonst niemand in der Familie. Doch die Kinder von 300 Elternpaaren, die Andrew Solomons für sein Buch interviewte, sind tatsächlich anders. Sehr anders sogar. Diese Kinder leiden an Down-Syndrom, Autismus oder Schizophrenie. Sie sind kriminell oder gehörlos, Genies oder transgender. Dieses dramatische Anderssein ist also eine Gemeinsamkeit und stellt Eltern vor ähnliche Probleme.
Die eigenen Erfahrungen des Autors von Ausgrenzung in der Jugend seien rückblickend hilfreich gewesen, meint er: "Meine Homosexualität macht den Hintergrund meines Buches aus. Denn als ich zur Welt kam, betrachtete man Homosexualität als Krankheit, als Verbrechen und als Sünde. Doch nun ist Homosexualität eine Sache der Identität. Zumindest in der Welt, in der ich lebe. Ich wollte wissen, worauf diese Verschiebung noch zutreffen würde: dass etwas als Krankheit und dann später als Identität gilt. Ich dachte mir: Wenn das bei Homosexualität der Fall war, gibt es sicher noch andere Beispiele."
Anders - aber nicht ganz
Der Anstoß für das Buch war allerdings nicht autobiografisch. Dieser geht auf eine Reportage für das "New York Times"-Magazine zurück. Andrew Solomon sollte über die Kultur von gehörlosen Menschen schreiben. Dabei entdeckte er eine ganz neue Welt. Er erfuhr, dass es nicht nur Schulen für Gehörlose gab, sondern auch Klubs oder Theater. Eine bunte Szene also. Diese werde freilich bald verschwinden, denn nun gibt es einpflanzbare Hörprothesen, sogenannte Cochleaimplantate.
"In vielen Fällen stellt sich für Eltern die Frage: Was kann man eventuell verbessern und womit wird man sich abfinden müssen?", so Solomon. "Wenn ein Kind beispielsweise gehörlos ist, dann kann man ihm ein Cochleaimplantat einpflanzen lassen. Bei einem Kind mit Down-Syndrom kann man das Gesicht mit plastischer Chirurgie so verändern, dass es nicht sofort als das eines Menschen mit Down-Syndrom erkenntlich ist. Man ist auf Schritt und Tritt damit konfrontiert, was man verändern und was man akzeptieren will. Angenommen, man hat ein autistisches Kind: Betrachtet man Autismus einfach als eine andere und völlig akzeptable Art des Denkens? Oder unternimmt man alles in seiner Macht Stehende, um den Autismus zu verschleiern und tut so, als würde er dadurch verschwinden? Mit solchen Fragen sind Eltern ständig konfrontiert."
Anfangs denken Eltern vor allem an eines: Was sie unternehmen können, um das, was sie als Behinderung oder Krankheit betrachten, zu eliminieren oder zumindest zu verbergen. Nach und nach lernen sie die Einzigartigkeit ihres Kindes nicht nur zu akzeptieren, sondern sogar zu lieben. Doch das ist kein leichter Weg. Wie es sich anfühlt, plötzlich mit einem behinderten Kind dazustehen und nicht zu wissen, was tun - das hat kaum jemand so treffend und poetisch beschrieben wie Emily Perl Kingsley.
Fördern oder nicht
Die Mutter eines Buben mit Down-Syndrom, die als Autorin für die preisgekrönte Kinderfernsehserie "Sesamstraße" arbeitete, schrieb darüber einen Essay, aus dem Andrew Solomon in seinem Buch Auszüge abdruckt: "Wenn du ein Baby erwartest, ist es ähnlich wie bei der Planung einer wunderbaren Italienreise. Du kaufst ein ganzes Bündel von Reiseführern und entwirfst herrliche Pläne: das Kolosseum, Michelangelos David, die venezianischen Gondeln. Eventuell lernst du auch ein paar gebräuchliche Redewendungen. Es ist alles sehr aufregend. Nach Monaten sorgfältigster Vorbereitung kommt endlich der lang ersehnte Tag. Du packst deine Koffer und los geht's. Einige Stunden später landet das Flugzeug, die Stewardess kommt und sagt: Willkommen in Holland!"
Emily Perl Kingsley förderte ihren Sohn Jason zu einer Zeit, als es für Kinder mit Down-Syndrom noch kaum Förderprogramme gab. Sie umgab ihn mit knallbuntem Spielzeug. Sie füllte die Badewanne mit Wackelpudding und legte Jason hinein, damit er die besondere Beschaffenheit spüren und den Pudding gleichzeitig kosten konnte. Doch Emily Perl Kingsley hatte auch immer wieder Zeifel, ob sie das Richtige tat:
"Sie sagte: Indem ich ihn zu einem extrem gut entwickelten Menschen mit Down-Syndrom erzog, machte ich ihn eigentlich einsam", erzählt Solomon. "Er ist nicht intelligent genug, um sich in die Welt von Menschen ohne Down-Syndrom voll sozial integrieren zu können. Und er ist gleichzeitig zu intelligent, als dass ihm die Kontakte mit anderen Menschen mit Down-Syndrom ausreichen würden. Aber letztlich bereute sie ihre Entscheidung nicht. Sie hatte den Eindruck, dass Jason sich ehrlich über seine Fähigkeiten freute. Über die Jahre hat seine Mutter nach und nach einen Freundeskreis um ihn aufgebaut. Teils mit, teils ohne Down-Syndrom."
Mittlerweile ist Jason auch kein Einzelfall mehr. Für Kinder mit Down-Syndrom gibt es nun sehr viel mehr Förderprogramme als in den 1970er Jahren.
"Schuld" an Kriminalität
Eines der zwölf Kapitel befasst sich mit Eltern, deren Kinder kriminell werden. Wenn ein Kind gehörlos oder schizophren ist, dann wird das von der Umwelt als Schicksalsschlag betrachtet. Doch Kriminalität gilt auch als elterliches Versagen. In dieser Lage sind Tom und Sue Klebold. Es brauchte Monate, bis Andrew Solomon das Ehepaar zu einem Interview überreden konnte.
Als die Klebods sich endlich zum Interview durchgerungen hatten, konnten sie nicht aufhören zu erzählen. So viel hatte sich über die Jahre aufgestaut. Und sie hatten in der Tat viel zu erzählen: Im April 1999 liefen die beiden Teenager Dylan Klebod und Eric Harris Amok. In der Highschool in Columbine/Colorado, erschossen sie zwölf Schüler und einen Lehrer. Weitere 24 Menschen wurden verletzt. Anschließend begingen die beiden Selbstmord.
"Ich erinnere mich noch an das erste Wochenende, das ich mit Dylans Eltern verbrachte", sagt Solomon. "Wir redeten und redeten, und am Sonntag waren wir alle erschöpft. Ich habe etwa 20 Stunden Interview aufgezeichnet. Wir saßen in der Küche und Sue Klebold kochte Abendessen. Ich fragte sie, ob sie für Dylan eine Frage hätte, wenn er jetzt hier säße. Und Tom sagte darauf: 'Und ob ich eine Frage habe: Was zum Teufel ist ihm da eingefallen?' Sue blickte zu Boden und dachte ein paar Minuten nach. Und dann sagte sie: 'Ich würde ihn bitten, mir zu verzeihen, dass ich als seine Mutter nicht gewusst habe, was in seinem Kopf vor sich geht.'"
Bedingungslose Elternliebe
Mit diesem Buch, "Weit vom Stamm" hatte Andrew Solomon sich wahrlich auf ein Monumentalwerk eingelassen. Zehn Jahre schrieb er daran. Er steckte gerade mitten drinnen in seinem 1.000 Seiten langen Opus, da beschlossen er und sein Mann, dass sie Kinder wollten:
"Freunde und Bekannte sagten immer wieder: Wie kann man ein Buch schreiben, was mit Kindern alles schief laufen kann und dann selber Kinder haben wollen? Und ich erwiderte auf diese Einwände immer wieder, dass dies kein Buch über Katastrophen, sondern - im Gegenteil - ein Buch darüber sei, wie viel Freude und Liebe es gibt. Auch wenn dem Anschein nach alles schief läuft."
Die Arbeit an dem Buch lehrte ihn, wie bedinglungslos Elternliebe sei, erklärt Andrew Solomon. Wenn all die Eltern in seinem Buch ihre Kinder trotz der Schwierigkeiten, Frustrationen und scheinbar unüberwindlichen Hindernisse so sehr lieben konnten, dann machte ihm das Mut. Dann konnte er glauben, dass auch er und sein Ehemann es schaffen würden, Kinder großzuziehen. Das Paar hat einen mittlerweile fünfjährigen Sohn.
Service
Andrew Solomon, "Weit vom Stamm - Wenn Kinder ganz anders sind als ihre Eltern", übersetzt von Antoinette Gittinger, Enrico Heinemann, Ursula Held und Ursula Pesch, Verlag S. Fischer