Von Harro Albrecht
Schmerz - Eine Befreiungsgeschichte
Schmerzen verstehen, Schmerzen verlernen, Schmerzen managen: An Büchern zum Thema mangelt es nicht. Der Arzt und Wissenschaftsjournalist Harro Albrecht vertritt die Überzeugung, dass Schmerz weit mehr ist als eine körperliche Empfindung. Und so handelt sein Buch von der gesellschaftlichen Dimension des Schmerzes.
8. April 2017, 21:58
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Harro Albrecht, "Schmerz - Eine Befreiungsgeschichte", Pattloch Verlag
Zitat
Dass das allseits bekannte Paracetamol vielleicht doch nicht so harmlos ist, wie viele Menschen denken, das habe ich zum Anlass genommen für eine Recherche. Und dann weitete sich das Thema aus. Und ich musste feststellen, dass ich überhaupt nicht so viel über Schmerz wusste, wie ich meinte zu wissen aus meinem Medizinstudium. Dass die Sache sehr viel komplexer ist. Und ruckzuck befand ich mich in einem völlig unüber-sichtlichen, riesigen Feld - was dann am Ende in einem Buch sich niedergeschlagen hat.
Schmerz ist nicht nur ein körperliches Symptom, sondern auch ein psychologisches und soziales, kurz: ein "biopsychosoziales" Phänomen. Es entsteht, so Albrecht, oft "weniger in den Körpern der Patienten, als (…) in den Falten ihrer Lebensentwürfe". Das trifft insbesondere auf die chronischen Schmerzen zu, deren Ursachen oft nicht zu lokalisieren sind. Eine Spritze oder Pille jedenfalls hilft da in der Regel nicht.
Therapien müssen den ganzen Menschen, die Biografie des Patienten in den Blick nehmen und interdisziplinär vorgehen. Wirksam können Yoga, Bewegung, Sport, sogar Placebos sein, aber auch Gruppenerlebnisse: gemeinsam Musizieren, Tanzen, Singen. So wie soziale Zurückweisung und Isolation den Schmerz verstärken, können umgekehrt Gemeinschaftserlebnisse und körperliche Aktivitäten ihn mindern. Geselligkeit statt Aspirin.
Albrechts 600-Seiten-Buch ist weder medizinisches Lehrbuch noch Ratgeber - sondern viel mehr als das. Denn der Schmerz, diese, so der Autor, "sehr schwer fassbare Größe", rückt hier nicht nur als medizinisches Phänomen in den Blick, sondern auch als kulturgeschichtliches, als etwas, das immer wieder instrumentalisiert wurde, von Kirche, Politik und Gesellschaft. Das zu erkennen sei - genauso, wie sich dem "Dogma der Schmerzfreiheit" nicht zu unterwerfen - eine "Befreiungsgeschichte".