Von Rainer Erlinger

Höflichkeit

Erlinger ist ein Spezialist in Sachen Alltagsmoral und bekannt vor allem durch seine wöchentliche Kolumne im SZ-Magazin, in der er seit Jahren knifflige Ethik-Fragen zum menschlichen Miteinander beantwortet. In seinem neuen Buch beschäftigt sich Erlinger nun ausführlich mit dem Thema: "Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend", so der Titel, der schon verrät, dass in Sachen Höflichkeit nicht alles so einfach ist.

Kontext, 6.5.2016

"Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist" – auf dieses Zitat aus Goethes Faust kommt Rainer Erlinger in seinem Buch immer wieder zurück. Denn es enthält im Kern den größten Vorbehalt, den man gegenüber der Höflichkeit haben kann: Sie sei nicht echt. Höflichkeit hat viel mit Konvention zu tun, sie ruht auf formellen Regeln, die nichts über die persönliche Zuneigung zum Gegenüber aussagen. Zudem ist sie konservativer Natur und sie ist, wie Erlinger das nennt, "konturschwach": das heißt sie drückt das, was zu sagen wäre, eher verschwommen und vorsichtig aus als in klaren Worten.

Die moralischen Dilemmata, die Rainer Erlinger in seinem Buch entwickelt, sind wie kleine Detektivgeschichten, deren Lösung am Ende oft anders aussieht, als man erwartet hätte. Ist es unhöflich, einer Bekannten zu sagen, dass ihre neue Frisur ziemlich missraten aussieht? Nein, im Gegenteil, höflich im Sinne des Respekts wäre es, sie darauf hinzuweisen. Dinge aus falsch verstandener Zurückhaltung nicht anzusprechen, kann im schlimmsten Fall sogar gefährlich werden, zeigt Erlinger und betont, dass Höflichkeit nicht davon abhängt, was man sagt, sondern wie man es ausdrückt.

Insgesamt sind Erlingers Erwägungen plausibel und sympathisch ist es, Höflichkeit als moralisches und zugleich demokratisches Prinzip gegenseitiger Achtung zu rehabilitieren. Das Buch ist dabei launig und flüssig geschrieben. Leider gerät es passagenweise ins zu leichtfüßige Plappern. Die Thesen hätten gut und gerne auch auf weniger Seiten Platz gehabt.

Service

Rainer Erlinger, "Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend", S. Fischer Verlag