Ute Frevert

VERLAG DER TAGESSPIEGEL/MIKE WOLFF

Im Gespräch

Die Macht der Demütigung

Ute Frevert ist eine der bedeutendsten deutschen Historikerinnen. In ihrer Arbeit stehen Fragen im Zentrum, die von Historiker/Innen nur selten bearbeitet werden: Haben Gefühle eine Geschichte? Machen Gefühle Geschichte?

Joseph Roth beschreibt diese Szene in seinem Roman Radetzkymarsch, der bekanntlich zur Zeit der Habsburgermonarchie spielt. Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts mutet ein Duell seltsam und nicht mehr zeitgemäß an, denn "Ehrenbeleidigung", die möglicherweise mit dem Tod endet, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.

Ein Mann begleitet eine Frau nachts nach Hause. Er hält das für seine Kavalierspflicht. Die beiden kommen an einem Kasino vorbei und werden von Offizierskollegen des Mannes gesehen. Am nächsten Tag will sich einer dieser Offiziere einen Jux machen und erzählt dem Verlobten der Frau, dass sein Kollege der Frau nicht nur Geleit gegeben habe, sondern auch mit ihr nach Hause gegangen sei. Der Verlobte sieht sich - der verletzten Ehre wegen - gezwungen, den witzelnden Rüpel zum Duell herauszufordern. Was als schlechter Scherz oder ungehobeltes Verhalten begann, endet in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages mit dem Tod der beiden Männer.

"Eine Demütigung dient meistens der Stabilisierung der eigenen Macht."

Die Historikerin Ute Frevert erforscht am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wie sich Gefühle über die Zeit hinweg verändern. So zum Beispiel das Gefühl der Ehre. Die These des Forschungsbereiches "Geschichte der Gefühle", den Frevert seit 2008 leitet, ist, dass die Gesellschaft vorgibt, was Menschen in einer bestimmten Situation fühlen dürfen. Gefühle sind also normiert. Und diese Normierung ändert sich fortwährend.

Mit der Frage danach, wie sich Normierungen von Gefühlen verändern, begibt sich Frevert, die sich 1989 habilitierte und von 2003 bis 2007 eine Professur für Deutsche Geschichte an der Yale University innehatte, auf ein bisher vernachlässigtes Forschungsgebiet.

"Ihre soziale Einbettung lässt Scham mächtig und gefährlich werden."

In ihrem jüngsten Buch, Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht (S.Fischer), setzt sie sich mit einem ganz besonderen Gefühl auseinander: der Demütigung. Ihr Ergebnis: "Eine Demütigung dient meistens der Stabilisierung der eigenen Macht." Frevert nähert sich der Erforschung dieses Gefühls also aus einer politischen Perspektive. Sie fragt danach, wie dieses Machtmittel seit der Zeit der Aufklärung an einzelnen Personen oder Gruppen eingesetzt wurde.

Eine besondere Bedeutung hatte dabei das höfisch-diplomatische Zeremoniell des 18. und 19. Jahrhunderts: "Das Zeremoniell bildete das Medium, in dem man Fragen der Ehre verhandelte. Wer wen nach welchen Regeln empfing, entpuppte sich als Maßstab von Macht und Ohnmacht." Für wochenlange Verhandlungen zwischen diplomatischen Delegationen sorgte etwa der in China übliche "Kotau" vor dem Kaiser. Dabei ging der Grüßende in gebührendem Abstand vor dem Kaiser auf die Knie und berührte dreimal den Boden mit der Stirn.

Einige westliche Diplomaten verweigerten diese Ehrerweisung. So zum Beispiel 1719 der russische Graf Lew Ismailow, Handelsgesandter des russischen Zaren. Doch am Ende musste er klein beigeben. 73 Jahre später wurde das Ansinnen des britischen Handelsgesandten Lord George Macartney, gleichberechtigte Handelsbeziehungen mit China aufzunehmen, von Kaiser Qianlong zwar brüsk abgewiesen, aber immerhin durfte Macartney dem Kaiser mit gebeugtem Knie entgegentreten.

"Die Moderne hat den Pranger keineswegs abgeschafft, sie hat ihn neu erfunden."

Wer denkt, im 21. Jahrhundert sei die Demütigung als gezielt eingesetztes Machtinstrument verschwunden, wird von Ute Frevert eines Besseren belehrt: "Die Moderne hat den Pranger keineswegs abgeschafft, sie hat ihn neu erfunden." Heute, sagt sie, beschämten nicht mehr die staatlich-hierarchischen Herrschaftsstrukturen, sondern die neuen und alten Medien, die sogenannten sozialen Foren - also die Gesellschaft selbst. Das Internet ermögliche mit nie da gewesener Reichweite, Menschen öffentlich bloßzustellen und vorzuführen.

Frevert untersucht nicht nur, wie mit Demütigung Macht erhalten wird, sondern auch, welche Rolle die Umstehenden spielen, die Zuschauenden, jene, die sich an der Demütigung der anderen belustigen. Und hier kommt nun die Scham ins Spiel: Psychologische Studien, die Frevert zitiert, zeigen, dass sich Scham meistens in Anwesenheit anderer einstellt. "Ihre soziale Einbettung lässt Scham mächtig und gefährlich werden", so Frevert. Wer sich einmal in der Anwesenheit Dritter geschämt hat oder beschämt wurde, wird das nicht vergessen.

"Je mehr sich die Öffentlichkeit daran beteiligt, desto schärfer wird die Waffe."

Bei all den Praktiken der öffentlichen Demütigung, Beschämung oder Erniedrigung zeigt sich aber eines: Ob sie ihr eigentliches Ziel erreichen, eben die Inszenierung und Erhaltung von Macht, hängt nicht zuletzt davon ab, wie sich das Publikum verhält: "Je mehr sich die Öffentlichkeit daran beteiligt, desto schärfer wird die Waffe."

Die Haltung des Publikums oder der Öffentlichkeit ist maßgeblich für den Erfolg oder das Scheitern einer demütigenden Politik, einer Politik, die auf der Erniedrigung und Missachtung von Minderheiten oder schwachen Gruppen aufbaut. Wie wird sich das "Publikum" in Zeiten zunehmenden Populismus in Zukunft verhalten?