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"Hysteria" - Romandebüt von Eckhart Nickel

Der Mensch selbst ist ein Faktor der Erdgeschichte geworden, sagt der niederländische Meteorologe Paul Crutzen. Im Jahr 2000 schlug er deshalb einen neuen Epochenbegriff zur Bezeichnung unserer erdgeschichtlichen Gegenwart vor: das Anthropozän.

Unser dualistisches Verständnis von Natur und Mensch oder Kultur ist also im Wandel. Im Fahrwasser dieses Wandels werden ethische, politische und ideologische Kämpfe ausgetragen, die sich von Diskursen um den Einsatz von Gentechnik, über das Ringen um internationale Abkommen zum Klimaschutz, bis hin zu Verschwörungstheorien vom vermeintlich erfundenen Klimawandel ziehen. In diesem beklemmenden Spannungsfeld hat der deutsche Autor Eckhart Nickel seinen Debütroman "Hysteria" angesiedelt.

Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht

Bei den "Tagen der deutschsprachigen Literatur" 2017 wurde dieser Satz inoffiziell von Jurorin Hildegard Keller zum besten ersten Satz der Klagenfurter Texte gekürt. Geschrieben hat ihn der Autor Eckhart Nickel in einer unheimlichen, aber auch rätselhaften Geschichte mit dem Titel "Hysteria". Dafür erhielt er dann auch den Kelag-Preis.

Schon damals schien der Text Teil eines größeren Projekts zu sein. Und tatsächlich: Vor einigen Wochen wurde Nickels Romandebüt veröffentlicht und schaffte es auch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Auf unangenehme Weise befragt der Roman das Verhältnis und die immer unsichereren Positionen von Natur und Mensch. Der Mensch in diesem Roman ist Bergheim, ein pedantischer, aufmerksamer, fast neurotisch-besorgter Enddreißiger. Auf einem Markt für Lebensmittel fallen ihm Bio-Himbeeren in die Hände, an denen er eine ungewöhnliche Farbe bemerkt.

Doch nicht nur mit den Biohimbeeren, überhaupt stimmt auch etwas mit diesem Ort, an dem sich Bergheim befindet, so einiges nicht. Das Verkaufspersonal scheint ihn plötzlich zu beobachten, vor allem nachdem er ein verletztes Rind bemerkt, aus dessen Wunde seltsam graues, blutleeres Fleisch klafft.

Giftgrüne Dystopie

Nickels - im Wortsinn - hypersensibler Protagonist, nimmt die Welt unglaublich genau wahr, was sich vor allem in der präzisen Sprache des Romans ausdrückt, in denen alle sinnlichen Eindrücke genau beschrieben und kategorisiert werden. Der Geschmack von Obst, das Aussehen eines Insekts, oder den Geruch eines Raumes, all das bekommt in den mikroskopischen Betrachtungen immer den Schein des Wissenschaftlichen. Aber es ist eine Wissenschaft des Subjektiven, die Bergheim betreibt, und die ihn für den Leser zu einer Art unzuverlässigen Erzähler macht. Folgt man den Wahnvorstellungen eines Verrückten oder den Entdeckungen eines widerständigen Aufklärers? Das ist in "Hysteria" zunächst keine ausgemachte Sache.

Im ständigen Glauben, beobachtet und verfolgt zu werden, beschließt Bergheim, dem vermeintlichen Lebensmittelskandal nachzugehen, was einem Abstieg in den Caroll‘schen Kaninchenbau in Alice im Wunderland gleichkommt und nach und nach die beängstigende, gesellschaftliche Realität, in der sich der Protagonist befindet, entfaltet. Eckhart Nickel schafft in "Hysteria" eine giftgrüne Dystopie, eine symbolisch aufgeladene und bis an die Grenze zum Absurden überzeichnete Welt, in der sich der Mensch in letzter Konsequenz, einer radikalen Sehnsucht nach der Rückkehr in den Naturzustand folgend, gegen sich selbst wendet. Knapp die Hälfte der gut 250 Seiten machen die Rückblenden aus, die den diskursiven Kern von "Hysteria" bilden.

Allmacht der Natur

Der junge Bergheim verliebt sich in seine Kommilitonin Charlotte. Aus Angst vom Umweltministerium abgehört zu werden, diskutieren sie am Campus der Hochschule für Kulinarik im Flüsterton über die Stellung des Menschen: Ist er Teil der Natur, oder längst schon ein ihr gegenüberstehender Fremdkörper? Was ist der Wert der Kunst gegenüber der Schönheit der Natur? Zitate und Erwähnungen von Werken wie E.T.A Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann", Francisco de Goyas Bild "Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer" oder Freuds Essay über das Unheimliche knüpfen Verbindungen zu den ästhetischen Diskursen der Romantik. In "Hysteria" tauchen sie in einer aktualisierten Form in der Gesellschaft wieder auf. Am Ende ihres Studiums trennt sich Charlotte überraschenderweise von Bergheim und wendet sich der radikalen Bewegung des „spurenlosen Lebens“ zu. Nicht ohne ihm einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, in dem sie noch einmal ihrer beider Gespräche Revue passieren lässt, die sich vorwiegend nur um ein Thema drehten.

"Hysteria" von Eckhart Nickel ist ein intelligenter und anregender Roman, der auf geschickte Weise bioethische, ökologische und philosophische Diskurse unserer Gegenwart aufgreift. Würden manche den Begriff Ökoliteratur bemühen, wäre doch "anthropozäne Literatur" viel angemessener. Denn es geht hier um weit mehr als um Artensterben, Klimawandel oder Umweltverschmutzung. Es geht um ein Menschbild, das unter den Bedingungen seiner technologischen Allmacht einerseits, und der Möglichkeit seiner selbstverursachten Auslöschung andererseits, neu verhandelt wird. Ein klarer Befund nach dieser bezugreichen Anamnese bleibt allerdings aus. Was zurück bleibt, ist ein unheimliches Schaudern und ein flaues Gefühl in der Magengegend. Fast so, als hätte man etwas Schlechtes gegessen.

Service

Eckhart Nickel, "Hysteria", Piper Verlag

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