Michael Köhlmeier

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Ö1 Schwerpunkt

Der Erzähler und das Radio

Michael Köhlmeier zum 75. Geburtstag - Ö1 widmet dem Jubilar mehrere Sendungen

Der Autor und der Rundfunk haben eine lange gemeinsame Geschichte. In seinen Anfangsjahren gestaltet Michael Köhlmeier, geboren am 15. Oktober 1949 in Hard am Bodensee, Radio-Features und Hörspiele im Landesstudio Vorarlberg des ORF. Ein charakteristischer Zug seines Werks scheint darin grundlegend: die Verschmelzung von nüchterner Realität und blühender Fantasie. Ein Beispiel: die Reportage über die Suche nach einer bei einem Musikfest verschwundenen Blaskapelle, die vom Bahnschrankenwärter Oskar Zambanini unter einem Stein wiedergefunden wird ("March Movie ", 1983, gemeinsam mit Peter Klein).

Die Erinnerung formt sich nach den Folgen des Erinnerten

Michael Köhlmeier und das Radio verbindet auch das Element Mündlichkeit. Mit den "Klassischen Sagen des Altertums", Mitte bis Ende der 1990er Jahre auf Ö1 gesendet, prägt Köhlmeier eine neue Art des Erzählens im Radio. Zu dem weitgehend frei gesprochenen Bericht kommt im selben Atemzug das Nachdenken darüber, Köhlmeier flicht Fragen und Interpretationen ein, lädt zum Mitdenken ein. Etliche weitere Stoffe erzählt Michael Köhlmeier auf diese Art: die Nibelungen, Episoden aus der Bibel, Dramen von Shakespeare, Sagen aus Österreich, Märchen.

Die vertraute Stimme

Viele von Köhlmeiers Büchern erscheinen bis heute auch in Audio-Form; seine charakteristische Art des Sprechens scheint sogar auf das Lesen zurückzuwirken: Bei einigen seiner Texte meint man die vertraute Stimme im Ohr zu haben … der Erzählton: zwischen empathisch und nonchalant, kühl von schlimmsten Grausamkeiten berichtend. Sowohl in den antiken griechischen Mythen als auch im ganz und gar heutigen Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" (2016), der geradezu lakonisch von einem unbegleiteten Kind von irgendwo erzählt.

Nicht zuletzt ist da, auch im Radio, der Musiker Michael Köhlmeier. Das Duo Ray und Mick (Köhlmeier und Reinhold Bilgeri) landet Anfang der 1970er Jahre die ersten Nichtwiener Austropop-Hits; die Nummer "Oho Vorarlberg" wird seither gern als heimliche Landeshymne bezeichnet. Michael Köhlmeier schreibt Songtexte ("ein Song ist ein auf das Wesentliche reduzierter Roman") unter anderem für die Band Schellinski. Gelegentlich ist der leidenschaftlich Musikhörende zu Gast in Radiosendungen, etwa über Bob Dylan oder Woody Guthrie. Diesen Oktober erscheint der Band "Die Gitarre": Köhlmeier erzählt vom täglichen Spiel, von Vorbildern, von den 37 Instrumenten seiner Sammlung und jenen, die sie gebaut haben. Literatur und Musik, sie gehen auch in anderen Büchern Köhlmeiers zusammen - und war nicht auch Homer Sänger …?

Ein Werkgebirge

Apropos Neuerscheinungen: Nicht weniger als fünf Bücher sind es allein heuer. Der Roman "Das Philosophenschiff", das Kinderbuch "Mein schwarzer Hund", gemeinsam mit Köhlmeiers Ehefrau Monika Helfer, der Gedichtband "Im Lande Uz", das erwähnte Gitarrenbuch und der Roman "Hoochie-Coochie Man Rap Novel". Über einhundert Titel sind in den vergangenen 50 Jahren erschienen, Hörbücher, Anthologien etc. nicht mitgerechnet. Im Werk findet sich Lyrik neben politischen Reden, Essays zu gesellschaftlichen und philosophischen Fragen, Hörspielen, Theaterstücken, Erzählungen und Romanen.

Ein wiederkehrendes Motiv ist die Vermischung historischer Tatsachen mit Fiktion, so in "Zwei Herren am Strand" über die Freundschaft zwischen Winston Churchill und Charlie Chaplin. Der epische Roman "Abendland" ist ein Abriss des 20. Jahrhunderts, noch weiter holen die Erinnerungen des Katers Matou aus. "Das Philosophenschiff" erzählt von der Vertreibung von Intellektuellen in den frühen Jahren der Sowjetunion.

Michael Köhlmeier

APA/HERBERT NEUBAUER

Unbeantwortete Fragen

Findet sich ein produktiverer Autor? Wie lässt sich ein solches Werkgebirge lesend erklimmen? Welche Gipfel sind dem Urheber selbst am wichtigsten, welche Routen empfiehlt er zur Besteigung? Auch das werden Fragen im "Menschenbild" zu seinem 75. Geburtstag sein. Neben der unumgänglichen, wenn auch wohl letztlich unbeantwortbaren Frage nach dem Autobiografischen in der (und seiner) Literatur. Eine Warnung vorweg, der Autor lässt sie den Erzähler seines Romans "Abendland" aussprechen: "Die Erinnerung formt sich nach den Folgen des Erinnerten; der Phantasie liegt ein stabiles gegenwärtiges Verlangen zugrunde, nämlich: sich einzubilden, wer man in der Vergangenheit hätte gewesen sein können …"

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