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LAUTE NÄCHTE

Autor

Thomas Arzt (Österreich)

Regie

Andreas Jungwirth

Musik

Hearts Hearts

Produktion

ORF , 2020 (Neuproduktion)

Assistenz

Julia Herzog

Schnitt

Manuel Radinger

Ton

Anna Kuncio

Mit

Marie-Luise Stockinger (Anna)
Felix Kammerer (Martin)
Sarah Viktoria Frick (Kathi)
Nikolaus Barton (Erik)

Inhalt

Eine junge Frau und ein junger Mann, nachts, beim Tanzen. Das ist die Geschichte. So einfach. "Laute Nächte" erzählt von Anna und Martin, die einander in einem Club begegnen. Aber es ist nicht die laute Musik, warum sie nicht miteinander sprechen können. Anna ist gehörlos. Das kann Martin ihr nicht ansehen und versteht Annas Verhalten als Ablehnung. Anna hat Erfahrung, was passiert, wenn ihr Gegenüber davon erfährt. Schließlich gilt sie auch im 21. Jahrhundert als behindert.

Zurückweisung, Verständnis, Mitleid - das alles kennt sie, das alles will sie nicht wieder und wieder erleben. Aber Martin bedeutet ihr etwas und so offenbart sie sich ihm mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln: Ich kann dich nicht hören. Was bitte soll das Problem sein, denkt Martin. Wann sehen wir uns wieder?, liest Anna von seinen Lippen. "Laute Nächte" ist die Geschichte zweier Liebender ...

Diese Produktion wurde von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Monats September 2020 gewählt.

Die Begründung der Jury:
Wir reden wie Fische
unter Wasser, die
Münder machen Laute
wie Blubberblasen, nur
dass wir keine Flossen
haben, sondern Flügel,
die schlagen in voller
Freiheit, wie die Vögel.

Das muss man sich erst mal trauen: Ein Hörspiel über Gehörlosigkeit. In dem vom ORF produzierten Stück „Laute Nächte“ sind der Autor Thomas Arzt und der Regisseur Andreas Jungwirth dieses Wagnis eingegangen. Anna ist gehörlos, Martin nicht. Bei ihrer ersten Begegnung spielt das keine Rolle. Denn die findet auf der Tanzfläche in einem Club statt, wo man die Bässe der Musik mit dem ganzen Körper spüren kann – und es zu laut ist, um sich zu unterhalten. Eine klassische, fast prototypische Boy-meets-Girl-Geschichte dient Thomas Arzt als Folie für eine Versuchsanordnung. Wann wird es, nach der ersten, durch stumme Blicke und körperliche Anziehung vermittelten Begegnung, kompliziert? Wann wird sich entscheiden, ob Martin Anna als „behindert“ einschätzt und das Interesse an ihr verliert – oder sich die Möglichkeit für eine echte Beziehung eröffnet?
Die Band Hearts Hearts liefert den atmosphärisch dichten Soundtrack der Clubnächte, der laut oder nahezu komplett gedämpft ist – je nachdem, ob wir gerade Martins oder Annas Perspektive hören. Dies kann und will keine
naturalistische Abbildung des Erlebens von Gehörlosen sein, schafft dafür aber eine klare dramaturgische Struktur, die das Gefühl, in getrennten Welten zu leben, erfahrbar macht. Erzählt wird die Geschichte im Wechsel zwischen Martins Dialogen mit seinem ebenfalls hörenden Freund Erik und Annas Dialogen mit ihrer gehörlosen Freundin Kathi. Die Stimmen der beiden Frauen sprechen sozusagen die Untertitel zu ihren Gebärdensprachdialogen.
In formaler Hinsicht besticht das poetische Hörspiel durch seine dramaturgische Stringenz und eine alltagsnahe Sprache, die gleichwohl gerade so stilisiert ist, dass klar wird: Es geht hier nicht um platten Sozialrealismus, sondern um die Reflexion von Erfahrungswelten. Inhaltlich ist die große Leistung des Stücks, dass es nicht nur Hörenden einen Perspektivwechsel in die Situation von Gehörlosen ermöglicht. Die Themen, die Anna im Dialog mit Kathi verhandelt, sind ganz generell für das Verhältnis von Menschen mit und ohne Behinderung relevant, wenn nicht gar noch allgemeiner für das von Mehrheitsgesellschaft und marginalisierten Gruppen. Der zentrale Kunstgriff ist es, diese Geschichte als Liebesgeschichte zu erzählen, wo neben der Spannung zwischen Thema und Medium auch noch alle möglichen Kitsch- und Klischeefallen lauern. Doch auch in diese Fallen tappt das Stück nicht, und genau daraus bezieht es seine stärkste Wirkung. Es verhandelt das Verhältnis von Menschen mit und ohne Behinderung im Kontext einer intimen Beziehung – und damit sieht sich das Publikum hautnah mit der Frage konfrontiert, wie man denn selbst mit einer solchen Situation umgehen würde. Wer würde sich in gesamtgesellschaftlichen Diskursen nicht für Barrierefreiheit und Inklusion stark machen? Aber wie würde man sich im Kontext privater Beziehungen verhalten?
Das Hörspiel wirft solche unbequemen Fragen in formal gelungener Weise auf, und genau deshalb hat es die Jury zum Hörspiel des Monats September 2020 gewählt. Offen bleibt bei aller Empathie des Autors für seine Protagonistinnen die Frage: Wie inkludiert man Gehörlose ins Radiogeschehen? Im Frühjahr plant der ORF eine öffentliche Aufführung des Stücks in der „Radiophonen Werkstatt“ von Regisseur Andreas Jungwirth in der Alten Schmiede in Wien. Dabei wird der Text von Gebärden-Dolmetscher*innen übersetzt. Damit geht der produzierende Sender einen Schritt in die richtige Richtung. Und wirft gleichzeitig weitere wichtige Fragen auf, die zugleich Zukunftsaufgaben in Sachen Inklusion für alle Sendeanstalten sind: Müsste nicht jede Radiosendung in Gebärdensprache übersetzt werden? Oder im Fall von vorproduzierten Formaten wie z.B. Hörspielen als Text-Video mit übertragen werden? Was im Fernsehen längst möglich ist, wäre im Zeitalter des Internet-Radios auch für den Hörfunk technisch kein Problem. Aber auch das muss man sich als Sender erst mal trauen. Der ORF hat einen ersten Schritt getan. Wer geht den nächsten?

Sendedaten

26. September 2020 (NP, 45:03 min ) mehr dazu im Ö1 Programm
9. April 2022 (WH, 45:03 min ) mehr dazu im Ö1 Programm

Trailer

Laute Nächte, 3:18