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DAS JAHR 2440

Autor

Louis Sebastien Mercier (Frankreich)

Regie

Hans Krendlesberger

Bearbeitung

H.S. Helmar

Produktion

ORF-B (Neuproduktion)

Mit

Sprecher – Paul Hoffmann
Zitator – Ernst Meister
Mercier – Sebastian Fischer
Passant – Wolfgang Gasser
Arzt – Heinz Moog
Ein Pariser – Kurt Heintel
Anwalt – Gustav Elger
Prälat – Karl-Heinz König
Mercies Begleiter – Frank Hoffmann
Wissenschafter – Volkmar Parschalk
Vorleserin – Traute Foresti

Inhalt

In seinem Roman "Das Jahr 2440. Ein Traum" beschreibt Mercier das Paris dieses in der Tat sehr fernen Jahres, und dieser Beschreibung fehlen in überraschender Weise alle die Vernunftgarantien der Geometrisierung und Normierung, die die Utopien des anderen, des "Nicht-Ortes", ausgezeichnet hatten. Neben vielen Merkwürdigkeiten erweist sich Merciers – zeitlich – fernes Paris als ausgesprochen zivilisiert, ja sogar als nachhaltig, um diese ganz aktuelle Kategorie hier zu verwenden, so z.B. wenn er sieht, dass im Jahr 2440 alle Kutschen in Paris langsam fahren werden, um Wagen, Pferde und Straßenpflaster zu schonen, oder dass alle Straßen zwar nicht einem geometrischen Muster folgen, aber breit, hell, sauber und gut durchlüftet sein werden, ein leicht nachvollziehbarer Wunsch, stellt man sich das Paris des Ancien Régime vor, das über weite Teile mehr einer großen Kloake als einer Stadt geglichen haben muss. Zwar kann sich der Autor noch keine anderen als lebende Energiequellen, eben Pferde und nicht Motoren, für den zukünftigen Verkehr vorstellen, bleibt hier also hinter der dann eingetretenen Zukunft deutlich zurück, an anderen Stellen scheint er ihr aber klar voraus zu sein, so wenn er beschreibt, dass in diesem zukünftigen und natürlich guten oder zumindest viel besseren Paris Adlige in ihren luxuriösen Kutschen die einfachen Bürger-Fußgänger nicht einfach überfahren dürfen, eine Utopie, von der wir noch recht weit entfernt zu sein scheinen, auch wenn heute Geburtsadel in gewisser Weise durch PS-Adel ersetzt ist.
Hinter all diesen zustimmungsfähigen Details, hinter der historischen Leistung einer Verzeitlichung des Utopischen, verbirgt sich nun nicht minder erstaunlich eine völlig neue Kategorie der Vernunftgarantie, die sich von der Geometrisierung und Normierung der bis dahin und auch danach formulierten Utopien genau so umstürzend unterscheidet wie die Verlagerung eines Bildes der guten Gesellschaft in die Zukunft, statt in einen fernen Ort. Merciers zukünftige Pariser leben nicht in einer strengen Ordnung, durch die Vernünftigkeit ihres Zusammenlebens gesichert wird. Sie schreiben stattdessen alle ständig Tagebücher, die von ihnen selbst und auch von allen anderen gelesen werden. Sie sind alle selbstreflektierende Schriftsteller. Die Vernunftgarantie liegt nicht in der vorgegebenen Ordnung, sondern im diskursiven Element ihrer Gesellschaft, in der Selbstreflexion. Mercier entwirft als Vernunftgarantie der verzeitlichten Utopie die selbstreflexive Gesellschaft. Damit postuliert er auch normativ eine kopernikanische Wende der Vernunftsicherung, ähnlich bedeutsam wie das Prinzip der Verzeitlichung und damit der Zukunftsorientierung von Utopie. Die Vernunftgarantie wird also in die Stadtkultur als einer bürgerlichen Diskurskultur verlagert.
Darin wird Mercier zum Vorläufer moderner Diskursethik, und in diesem Sinne sind alle Projekte des Forschungsverbundes – cum grano salis – an Mercier orientiert, denn sie entwickeln als Garantie von Vernunft, auf die sie implizit alle zielen, keine Bauformen, keine Gesellschaftsordnungen, sondern ausnahmslos Diskurse, die das Gute in der Stadt der Zukunft sichern sollen. Man könnte sagen, alle Projekte sind –ohne dass sie es selbst wahrgenommen hätten – Mercier-Schüler und -Nachfahren, wobei diese Reflexion den Projekten durch die Ausschreibung sehr eindringlich nahe gelegt worden war. Aber auch andere Dinge wurden in der Ausschreibung nahe gelegt, aber durchaus nicht immer aufgenommen. Ein hohes Maß an Zustimmung der Projektgruppen mit diesem Detail der Ausschreibung muss also vorliegen, sonst wären wohl kaum alle Projekte darauf eingegangen.
(Gesendet in der Reihe "Die Zukunft von gestern")

Sendedaten

16. Jänner 1969 (NP, 59:30 min )