Gedanken für den Tag

von Anna Mitgutsch. "Fremd seid ihr gewesen"

Anna Mitgutsch, österreichische Schriftstellerin und Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde in Linz, entfaltet in den "Gedanken für den Tag" das biblische Bild von Gott, der mit seinem Volk in die Fremde zieht und so selbst zum Fremden wird.

"Gehe aus deinem Land und aus deinem Geburtsort und aus dem Haus eines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde", sagt Gott im biblischen Buch Genesis zu Abraham. Eine Emigration aus religiösen Gründen, ein Weg ins Ungewisse, wie ihn alle Emigranten zu allen Zeiten vor sich hatten. Gerade aus dieser eigenen Erfahrung des Fremdseins rühren auch viele der biblischen Handlungsanleitungen für den Umgang mit Fremden. In der Erzählung von Ruth wird die Fremde, die Moabiterin, zur Stammmutter des Davidischen Königsgeschlechts, aus dem der Messias hervorgehen soll.

Solche scheinbaren Unvereinbarkeiten auszuhalten sind für Anna Mitgutsch eine Vorbedingung dafür, Anderssein nicht nur zu tolerieren, sondern als Gewinn und als Horizonterweiterung zu sehen.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Fremd sein bedeutet, mit Regeln konfrontiert zu sein, die einem nicht selbstverständlich sind. Fremdsein bedeutet, sich ausgesetzt zu fühlen.

In den fünf Büchern Moses erscheint das Gesetz zum Schutz und zur Gleichbehandlung von Fremden nicht bloß ein- oder zweimal, sondern (von mir gezählte) dreiundfünfzig Mal. Es sind keine zufällig eingestreuten Ermahnungen für vorbildliches Verhalten, sondern Gebote von schwerwiegender Bedeutung, die in unmittelbarer Nachbarschaft zu den wichtigsten Geboten der Bibel stehen. Die Erfahrung, verachtete, versklavte Fremde in Ägypten gewesen zu sein, ist das prägende Trauma des jüdischen Volkes in der Tora. Und die Abhängigkeit und Dankbarkeit gegenüber dem Ewigen, der es aus der Fremde und aus der Knechtschaft herausgeführt hat, bestimmt die Einstellung des Volkes Israels zu seinem Gott. Dieser Gott ist beides: Unfassbare Transzendenz und der Gesetzgeber, der für sein Volk sorgt, ihnen Manna zu essen gibt und Brunnen in der Wüste sprudeln lässt.

Der Fremde unter euch, wie es in der Tora formelhaft heißt, hat nicht nur das Recht auf Gleichbehandlung, sondern er hat auch Verpflichtungen. Der Status des Fremdseins durchzieht die gesamte Bibel als ein zentraler Begriff. Wie die Tora richtig erkannte, ist der Fremde anfänglich immer Außenseiter. Er steht in der Hierarchie der Macht ganz unten und braucht den Schutz des Gesetzes. Indem er den gleichen Pflichten und denselben Geboten unterworfen ist wie die Kinder Israels, von den Zehn Geboten bis zu den 613 Geboten des jüdischen Gesetzeskodex, hört der Fremde jedoch auf, fremd und ein Außenseiter zu sein. Den Mitgliedern der Gemeinschaft verbietet das Gesetz, ihn an seine Vergangenheit als Fremder zu erinnern.

Service

Buch, Anna Mitgutsch, Erinnern und Erfinden, Grazer Vorlesungen, Droschl-Verlag
Buch, Anna Mitgutsch, Die Züchtigung, Claassen
Buch, Anna Mitgutsch, Das andere Gesicht, Claassen
Buch, Anna Mitgutsch, Ausgrenzung, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, In fremden Städten, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, Abschied von Jerusalem, Rowohlt Berlin
Buch, Anna Mitgutsch, Haus der Kindheit, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, Familienfest, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, Zwei Leben und ein Tag, Luchterhand
Buch, Anna Mitgutsch, Wenn du wiederkommst, Luchterhand

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 110825 Gedanken für den Tag / Anna Mitgutsch
Länge: 03:49 min

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