Im Gespräch

"Heimat ist sichtbar nur aus der Entfernung". Doris Stoisser im Gespräch mit W. G. Sebald, Schriftsteller (Erstausstrahlung am 19. April 2001)

Wie kann man mit ganz wenigen Sätzen, Pinselstrichen ähnlich, einen Menschen skizzieren? Ihm sich so annähernd, gerecht werden. Winfried Georg Sebald, allgemein als W. G. Sebald bekannt, dessen Stimme heute - zehn Jahre nach seinem Tod - zu hören sein wird, liebte die Musik. Etwa Gustav Mahlers "Ich bin der Welt abhanden gekommen" oder den zweiten Satz aus Mahlers erster Symphonie. Oder die "Strauss Transkriptionen" von Arnold Schönberg. Sebald liebte die Natur, hatte eine gute Hand für Pflanzen, besonders für seine Blumen im Pfarrhausgarten, er setzte Bäume, von denen er hoffte, dass diese später einmal, wenn sie aufgewachsen sein werden, ihm seine alten Tage behüten. Er war einer, der wegging aus dem Land, in dem er geboren wurde. Fortgegangen aus Deutschland. Aber nie wirklich angekommen in England. Sebald fühlte sich als Fremder - überall.

Ob er sich an einen Ort erinnern könnte, wo er sich zuhause gefühlt habe, wurde er kurz vor seinem Tod von einem Journalisten der New York Times gefragt.
Sebald dachte nach und antwortete dann bedächtig: Ja, die Insel St. Pierre im Lac de Bienne, dem Bielersee in der Schweiz, die Jean-Jacques Rousseau 1765 als Zufluchtsort gedient hat. St. Pierre, weil diese Insel eine Welt für sich war."

Zuhause war er vor allem im Schreiben, von dem er bald lernte, dass Kunst ohne das Handwerk nicht auskommt. "Es gibt viele Formen des Schreibens", notierte Sebald, "einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution".

Sebald war nach Beendigung seines Studiums nach England ausgewandert, wo er seine Schulfreundin heiratete und ein altes Pfarrhaus bezog. Er, der mit einem Herzfehler geboren wurde, habilitierte sich an der Universität Hamburg mit einer "Beschreibung des Unglücks" - ein Thema, das ihn nie verlassen hat. Er begann an der University of East Anglia in Norfolk eine Universitätskarriere. Sebald verfasste Gedichte, einige Romane und Essays, letztere, wie etwa sein kritischer Text über den deutschen Schriftsteller Alfred Andersch über dessen Verhalten während der Hitlerdiktatur, waren nicht unumstritten. W.G. Sebalds literarisches Werk entstand vor allem in den 1980er Jahren. "Die Ringe des Saturn" - Untertitel: "Eine englische Wallfahrt", machten ihn im deutschsprachigen Raum bekannt. In "Luftkrieg und Literatur" thematisierte er das Fehlen einer Auseinandersetzung der Schriftsteller mit diesem Kapitel deutscher Geschichte. Der Roman "Austerlitz", eine rätselhafte Spurensuche, erschien im Jahr 2001 und wurde als Sebalds größter internationaler Erfolg in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Winfried Georg Sebald war erst 57 Jahre alt, als er, im Dezember 2001 bei einem Autounfall in seiner Wahlheimat Norfolk an einem Herzinfarkt starb. Anlässlich seines 10. Todestages ist ein Gespräch zu hören, das Doris Stoisser mit W. G. Sebald geführt hat.

Service

W.G. Sebald, "Auf ungeheuer dünnem Eis" - Gespräche 1971 bis 2001, Taschenbuch, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt (ISBN: 978-3-596-19415-5)

W.G. Sebald, "Austerlitz", Roman, Carl Hanser Verlag, München 2001 (ISBN: 3446199861)

W. G. Sebald, "Die Ringe des Saturn: Eine englische Wallfahrt", Taschenbuch, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt (ISBN: 978-3-596-13655-1)

W. G. Sebald, "Die Ausgewanderten: Vier lange Erzählungen", Taschenbuch, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt (ISBN: 978-3-596-12056-7)

W.G. Sebald, "Nach der Natur: Ein Elementargedicht", Taschenbuch, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt (ISBN: 978-3-596-12055-0)

W.G. Sebald, "Die Beschreibung des Unglücks: Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke", Taschenbuch, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt (ISBN: 978-3-596-12151-9)

W.G. Sebald, "Unheimliche Heimat: Essays zur österreichischen Literatur", Taschenbuch, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt (ISBN: 978-3-596-12150-2)

Übrigens: Das Gespräch, das Michael Kerbler mit Stéphan Hessel, dem französischen Diplomaten und Buchautor von "Empört euch!" Mitte Oktober im Parlament geführt hat, ist jetzt in Buchform mit Audio CD im Wieser Verlag erschienen. Erhältlich ist das Buch im ORF-Shop und im gut sortierten Buchhandel.

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