Gedanken für den Tag

von Paul Michael Zulehner, Spiritualitätsforscher und Theologe. "Sehnsucht ist der Anfang von allem". Gestaltung: Alexandra Mantler

Lebenskultur als ob es Gott nicht gäbe

Der marxistische Soziologe Henri Lefebvre ist Atheist. Als solcher glaubt er Gott weg. Er rechnet damit, dass mit dem Tod alles aus ist. Wie er als Atheist die Spannung zwischen maßloser Sehnsucht und stets nur mäßiger Erfüllung meistert, hat er unter dem Titel "La critique de la vie quotidienne", Kritik des Alltagslebens, veröffentlicht.

Eingestreut in unseren Alltag, so Lefebvre, finden sich "moments", Momente, Lebensfeste. Vier nennt er: Liebe, gute Arbeit, Erkennen und das Spiel. Typisch für diese sei, dass sie uns Raum und Zeit vergessen machen. Sie sind gelebte Sehnsucht pur. Von ihnen lässt Goethe Faust sagen: "Verweile doch, du bist so schön!" Ähnlich der Kernkreis der Jünger Jesu auf dem Berg der Verklärung: "Lass uns hier drei Hütten bauen."

Gern möchten wir in den "moments" dauerhaft verweilen. Aber, so Lefebvre lebenserfahren, die Momente "scheitern". Wir müssen vom Berg der Verklärung in den Alltag zurück. Die Feste der Liebe enden ebenso wie gutes Erkennen oder das Spiel. Das nimmt aber den Lebensfesten nicht ihre Bedeutung. Denn wir erinnern uns an sie zurück. Und fangen im Erinnern an zu wünschen, dass es morgen wieder ein Fest geben möge. Diese Sehnsucht nach neuerlichen Festen lässt uns den Alltag bestehen, lässt uns leben. Das désir, das maßlose Sehnen, hat also einen Sinn. Auch wenn es nur in eingestreuten Momenten Erfüllung findet.

In Ernest Hemingways Roman "Wem die Stunde schlägt" lehrt eine einfache Frau aus dem Volk den unerfahrenen Soldaten Robert Jordan, der ihre Tochter Maria liebt: "Nur dreimal im Leben wackelt die Erde." Lieben, so ihr weiser Rat, ist nie ein Dauererdbeben der Sehnsucht, sondern Alltag. Hoffentlich versöhnter Alltag wünscht der lebenserfahrene Atheist Lefebvre: Denn nur in einem solchen können uns Feste zufallen.

Service

Buch, Henri Lefebvre, "Kritik des Alltagslebens", Fischer Taschenbuch
Buch, Ernest Hemingway, "Wem die Stunde schlägt", Fischer Taschenbuch

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach/1685 - 1750
Album: BACH - DIE CEMBALOKONZERTE
* Allegro - 1.Satz (00:08:17)
Titel: Konzert für Cembalo, Streicher und B.c. Nr.3 in D-Dur BWV 1054
Solist/Solistin: Igor Kipnis /Cembalo
Solist/Solistin: Colin Tilney /Continuo
Orchester: The London Strings
Leitung: Sir Neville Marriner
Länge: 02:00 min
Label: CBS Maestro M2YK 45616

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