Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Weltpoesie ist Weltversöhnung" - Zum 150. Todestag des Dichters und Orientalisten Friedrich Rückert. Gestaltung: Alexandra Mantler

Das Abendrot ist schöner als das Morgenrot - so beginnt eines der unzähligen Gedichte des vor 150 Jahren verstorbenen deutschen Dichters Friedrich Rückert. Ich zitiere es nicht, um Ihnen den Morgen zu verderben, sondern um die Vorfreude auf den Abend zu wecken, mit dem auch der heutige Tag enden wird. Vor allem aber interessieren mich Rückerts Begründungen für seine Verszeile "Das Abendrot ist schöner als das Morgenrot". Drei nennt er, aber die, auf die es ihm ankommt, ist die vierte, mit der er das kurze Gedicht schließt: "weil ich selbst dem Abendrot / Des Lebens näher als dem Morgenrote bin". Diese Formulierung stimmt auch für mich. Und statt weiterhin mit Entsetzen auf das Datum zu schielen, an dem ich unweigerlich sechzig Jahre alt werde, könnte ich es machen wie Rückert: "Im Abendrot das schönste Licht des Lebenstages sehen. Noch gelingt es mir nicht, aber ein bisschen Zeit habe ich ja noch".

Aber da ist noch etwas, was mich an dem kurzen Rückert-Gedicht fasziniert: Es zeigt nämlich, dass wir nicht einmal, wenn wir Naturerscheinungen beobachten, objektiv sind. Selbst in die Natur projizieren wir unser Alter, unsere Lebensumstände und unsere Vorlieben hinein. Darum habe ich mich dazu durchgerungen, meine Texte fast immer vom meinem Ich her zu schreiben und von eigenen Erfahrungen auszugehen. Nicht, weil meine Erfahrungen die wichtigsten sind oder ich auf fremde nicht angewiesen wäre - sondern weil ich die Abhängigkeit meiner Beobachtungen, meines Denkens und Erlebens, von den eigenen Erfahrungen nicht verschleiern oder hinter einer sogenannten Objektivität verstecken will.

Friedrich Rückert ist da ein guter Impuls, haben doch seine Frau, mit der ihn eine lebenslange Liebe verband, und seine zehn Kinder, aber auch seine konkreten Lebenssituationen immer wieder Eingang gefunden in seine Gedichte. Für dieses Ineinander von Leben und Schreiben hat er einmal ein überzeugendes Bild gefunden:

"Ein Teppich scheinet mir mein Leben,
Und immer sticket meine Hand;"

Das Leben als Teppich - dieses orientalisch geprägte Bild passt für die vielen Stränge und Facetten von Rückerts Leben; die Fäden könnte man als aus dem Leben genommen und das Sticken als formbewusste Arbeit am Kunstwerk deuten. Rückert fand darin das Resümee seines Lebens:

"Ein Teppich scheinet mir mein Leben,
Und immer sticket meine Hand;
An welcher Stell' ich auch mag weben,
Am obern oder untern Rand;
Zuletzt, wo so viel Kleinstes
Sich still verband, entstand
Ein Großes Allgemeinstes.

Service

Buch, Friedrich Rückert, "Kindertodtenlieder und andere Texte des Jahres 1834", Wallstein Verlag (=Friedrich Rückerts Werke. Historisch-kritische Ausgabe "Schweinfurter Edition")
Annemarie Schimmel (Hg.), "Friedrich Rückert, Ausgewählte Werke", Insel Verlag
Walter Schmitz (Hg.), "Friedrich Rückert, Gedichte", Reclam Verlag
Friedrich Rückert, "Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns", Wallstein Verlag
"Der Koran". Übersetzt von Friedrich Rückert. Anaconda Verlag
Friedrich Rückert. "Die Weisheit des Brahmanen", Anaconda Verlag
Annemarie Schimmel, Friedrich Rückert, "Lebensbild und Einführung in sein Werk", Wallstein Verlag
Rudolf Kreutner (Hg.), "Der Weltpoet. Friedrich Rückert 1788 - 1866. Dichter, Orientalist, Zeitkritiker", Wallstein Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Titel: GFT 160127 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:50 min

Komponist/Komponistin: Franz Schubert/1797 - 1828
Titel: Sonate für Arpeggione und Klavier in a-moll DV 821 / Bearbeitung für Viola und Klavier
* Allegro moderato - 1.Satz (00:12:09)
Solist/Solistin: Yuri Bashmet /Viola
Solist/Solistin: Michail Muntian /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: RCA Victor RD 60112

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