Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Weltpoesie ist Weltversöhnung" - Zum 150. Todestag des Dichters und Orientalisten Friedrich Rückert. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Reizender als alle Sprachen,
Die ich jemals lernt und sprach,
Tönt, was deine Lippen brachen,
Mir noch jetzt im Traume nach."

So redet das Sprachgenie Friedrich Rückert im Gedicht seine Tochter Luise an, die am Silvestertag des Jahres 1833 mit dreieinhalb Jahren an Scharlach starb. Gute zwei Wochen später, am 16. Jänner 1834, erlag auch sein fünfjähriger Sohn Ernst dem Scharlach. Es war die schlimmste Tragödie in Friedrich Rückerts Leben. Sein ganzer Schmerz ist in die Kindertodtenlieder geflossen - manchmal schrieb er vier am Tag, gute 400 waren es nach einem halben Jahr - "eine Umsetzung der Klage in Kunst, wie die Weltliteratur keine ähnliche hat", schreiben die Herausgeber der Historisch-kritischen Ausgabe von Rückerts Werken.

Der Band mit den Kindertodtenliedern hat mir Schauer über den Rücken gejagt. Die Silvesternacht mit dem toten Kind im Haus, während draußen die Böller krachen, das Spinnrad, das der Vater schon gekauft hat, aber der Tochter nicht mehr geben kann, der Geburtstag des toten Kindes - alle quälenden Details blitzen auf in diesen Gedichten. In mir ist dabei auch die Erzählung meiner verstorbenen Mutter von der größten Tragödie meiner Herkunftsfamilie wieder hochgekommen: Wie die kleine Schwester meiner Großmutter an Scharlach gestorben und am Vormittag des Heiligen Abend begraben wurde, und ihre Mutter - meine Urgroßmutter - konnte nicht am Begräbnis teilnehmen, weil sie selbst Scharlach hatte. Der Urgroßvater ist vom Krankenbett aufgestanden und kurz danach gestorben. Meine Großmutter habe ich nur noch als blinde, halbseitig gelähmte und taube Frau gekannt - ihre Taubheit hatte sie vom Scharlach. Wenn man Rückerts Kindertodtenlieder liest, kann man ahnen, was der massenhafte Tod von Kindern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für ihre Eltern und Familien bedeutet hat.

"Du bist ein Schatten am Tage,
und in der Nacht ein Licht,
Du lebst in meiner Klage,
Und stirbst im Herzen nicht."

So begann Friedrich Rückert eines seiner Gedichte an die tote Tochter, die ihm auch den Tod seiner kleinen Schwester in Kindheitstagen wieder in Erinnerung rief. Durch Gustav Mahlers Vertonung sind die Kindertodtenlieder weltberühmt geworden. Zwei tote Kinder leben weiter in der Kunst, zwei von unzähligen Kindern.

Service

Buch, Friedrich Rückert, "Kindertodtenlieder und andere Texte des Jahres 1834", Wallstein Verlag (=Friedrich Rückerts Werke. Historisch-kritische Ausgabe "Schweinfurter Edition")
Annemarie Schimmel (Hg.), "Friedrich Rückert, Ausgewählte Werke", Insel Verlag
Walter Schmitz (Hg.), "Friedrich Rückert, Gedichte", Reclam Verlag
Friedrich Rückert, "Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns", Wallstein Verlag
"Der Koran". Übersetzt von Friedrich Rückert. Anaconda Verlag
Friedrich Rückert. "Die Weisheit des Brahmanen", Anaconda Verlag
Annemarie Schimmel, Friedrich Rückert, "Lebensbild und Einführung in sein Werk", Wallstein Verlag
Rudolf Kreutner (Hg.), "Der Weltpoet. Friedrich Rückert 1788 - 1866. Dichter, Orientalist, Zeitkritiker", Wallstein Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Titel: GFT 160129 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:48 min

Komponist/Komponistin: Gustav Mahler/1860 - 1911
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Friedrich Rückert/1788 - 1866
Gesamttitel: KINDERTOTENLIEDER - Liederzyklus nach Gedichten von F.Rückert
Titel: Nr.5 In diesem Wetter, in diesem Braus
Solist/Solistin: Jessye Norman /Sopran
Orchester: Boston Symphony Orchestra
Leitung: Seiji Ozawa
Länge: 02:00 min
Label: Philips 426249-2

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