Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Weltpoesie ist Weltversöhnung" - Zum 150. Todestag des Dichters und Orientalisten Friedrich Rückert. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Ich war schon ziemlich ein Christ...
Ihr machtet es mir zu toll
Mit eurem christlichen Leide;
Mein Herz ist noch freudenvoll,
Drum bin ich ein Heide..."

Dieses poetische Bekenntnis überrascht im Werk des Dichters Friedrich Rückert, der an anderen Stellen durchaus sein protestantisches Christentum betont. Aber am christlichen Leidenskult haben viele Dichter und Denker von Goethe über Heine und Nietzsche bis heute gelitten.

Friedrich Rückert hat aber auch etwas gesehen, was sich in der Gegenwart noch stärker zeigt: Dass manche Menschen, die sich vom Christentum strikt distanzieren, sehr schnell bereit sind, alle möglichen Rituale zu vollziehen und sich obskuren Kräften und Mächten auszuliefern. Rückert hat das allerdings viel schöner formuliert:

"Wär ich ein Heide
In meinem Leide,
In der Gedanken
Unstetem Schwanken;
Daß ich ein Zeichen
Mir ließe reichen
Vom Vogelfluge,
Vom Wolkenzuge,
Von Sturm aus Lüften,
Von Traum aus Grüften,
Und nichts den Glauben
Mir dürfte rauben,
Daß Schicksalsmächte
Nach ihrem Rechte
Den Schritt uns lenken
Und für uns denken,
Wo uns zum Wählen
Entschlüsse fehlen.

Kann man es charmanter sagen, dass religiöse und pseudoreligiöse Vorstellungen gelegentlich nur dazu dienen, die eigene Verantwortung und das Denken an jemanden oder etwas abzuwälzen?

Trotz dieser Kritik war Friedrich Rückert fasziniert von den Religionen; vor allem von einem Zug, der mir immer verdächtig ist: die Vorstellung einer Einheit hinter aller Wirklichkeit. Zu oft ist solches Einheitsdenken zum philosophischen oder religiösen Fundament von Diktaturen geworden. Rückerts Einheitsvision allerdings vereinheitlicht nicht, sie lässt auch in der Einheit die Unterschiede bestehen. In einem seiner Gedichte, das wie ein Gebet klingt, spricht er Gott oder das Göttliche an und entwickelt die Vorstellung von einem Vaterohr, ja einem Weltenohr, vor dem jeder Mensch, aber auch der Kosmos und die unbelebte Natur eine Stimme hat:

"Geist der Liebe, Weltenseele, Vaterohr, das keine
Stimme überhöret der dich lobenden Gemeinde...
Der du gabest, dich zu loben, eine Stimme jedem
Leben, von der lichten Sonne bis zum dunklen Steine...
Weltenohr, vor dem gesungen vom Beginn der Zeiten
Die Jahrhunderte herab, viel Dichter im Vereine:
Ihrer Saiten Widerspruch ist vor dir ausgeglichen,
Ihre hunderttausend Stimmen hörest du als eine."

Service

Buch, Friedrich Rückert, "Kindertodtenlieder und andere Texte des Jahres 1834", Wallstein Verlag (=Friedrich Rückerts Werke. Historisch-kritische Ausgabe "Schweinfurter Edition")
Annemarie Schimmel (Hg.), "Friedrich Rückert, Ausgewählte Werke", Insel Verlag
Walter Schmitz (Hg.), "Friedrich Rückert, Gedichte", Reclam Verlag
Friedrich Rückert, "Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns", Wallstein Verlag
"Der Koran". Übersetzt von Friedrich Rückert. Anaconda Verlag
Friedrich Rückert. "Die Weisheit des Brahmanen", Anaconda Verlag
Annemarie Schimmel, Friedrich Rückert, "Lebensbild und Einführung in sein Werk", Wallstein Verlag
Rudolf Kreutner (Hg.), "Der Weltpoet. Friedrich Rückert 1788 - 1866. Dichter, Orientalist, Zeitkritiker", Wallstein Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Gustav Mahler/1860 - 1911
Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach/1685 - 1750
Titel: Suite aus Orchesterwerken von Johann Sebastian Bach für Cembalo, Flöte, Orgel und Orchester
* Rondeau. Badinerie. Rondeau / a.d.Suite Nr.2 in h-moll BWV 1067 - 2.S. (00:03:40)
Orchester: Radio Symphonieorchester Berlin
Leitung: Jesus Lopez Cobos
Solist/Solistin: Peter Schwarz /Cembalo
Solist/Solistin: Peter Siegele /Orgel
Solist/Solistin: Martin Ulrich Senn /Flöte
Länge: 02:00 min
Label: Schwann CD 11637

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