Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". "Die Wirklichkeit hat unzählige Formen" - Zum 100. Todestag von Henry James. Gestaltung: Alexandra Mantler

Viele Perspektiven

Die Zeit, in der der amerikanische Schriftsteller Henry James lebte, der 1916 gestorben ist, ist eine Zeit der enormen Umbrüche, Umbrüche, die auch in der Kunst sichtbar werden. Die Kunst verabschiedet sich von der Zentralperspektive, und die Literatur sich - so könnte man vereinfacht sagen - vom auktorialen Erzählen, von einem Erzähler also, der Bescheid weiß, der ordnet, der vor allem auch Normen vermittelt.

Nun kommen die einzelnen Figuren ins Spiel und ihre Perspektiven, ihr Beobachten und Reflektieren, das sich von dem der anderen auch unterschieden kann. Aus dem jeweils beschränkten Wissen und der jeweiligen Wahrnehmung erfahre ich als Leserin die Geschichte. Die Tatsachen schaffen sich erst durch das Bewusstsein der denkenden Figuren und können einander widersprechen.

Das alles hat durchaus politische Bedeutung. Wenn man sich die Zeit vergegenwärtigt, in der Henry James schrieb, so ging Literatur da durchaus noch der Aufgabe nach, die Entwicklung von Figuren zu zeigen, und zwar eine Entwicklung im Sinn der viktorianischen Gesellschaft mit ihren Normen. Es ist also klar, was richtig und was falsch ist, und Leser und Leserin sollen möglichst in die richtige Richtung mitgenommen werden.

Nun verändert sich aber die Form, wird die Hierarchie gestürzt, fehlt auf einmal die zentrale Perspektive, die letzte Autorität, und damit wird vieles fraglich und vieles möglich. Auf einmal sehen so manche Normen gar nicht mehr so klar aus. Kann nicht ein anderer in einer anderen Situation zu einer anderen Entscheidung kommen und diese Entscheidung dann auch moralisch sein? Nun ist das Individuum gefordert, das sich mit solchen Fragen auseinandersetzen muss, das eine Wahl treffen muss.

Diese hochkomplexe Auseinandersetzung findet sich nicht nur formal - vor allem in den späteren Werken von Henry James - wieder, sondern auch inhaltlich. Wenn etwa im Roman "Washington Square" die Autoritätsperson des Vaters unerschütterlich und kalt an seinen Berechnungen und seinem Rechthaben festhält, egal welchen Schaden die Tochter dabei nimmt, frei nach dem Motto: Hauptsache, die Haltung wird durchgehalten, für Nebenwirkungen wird keine Haftung übernommen. Moralisches Abwägen kommt in einer solchen Denkhaltung nicht vor. Dagegen setzt James in manchen Werken erstaunlich starke Frauen, die in dem ihnen vorgegebenen damals noch sehr engen Rahmen durchaus individuelle moralische Entscheidungen treffen.

Service

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Titel: GFT 160225 Gedanken für den Tag / Brigitte Schwens-Harrant
Länge: 03:46 min

weiteren Inhalt einblenden