Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Früher oder später muss man Partei ergreifen, wenn man ein Mensch bleiben will". Gestaltung: Alexandra Mantler

Max Frisch war einer der literarischen Säulenheiligen meiner Jugend. Kaum zu glauben, dass es am 4. April schon 25 Jahre sein werden, dass er gestorben ist. Es gab eine Zeit, da ich alles von ihm lesen wollte.

Seinen Roman "Stiller" habe ich als Student auf eine lange Fahrt mitgenommen und dann das ausgelesene Buch im Orangensaft ertränkt, der in meiner Tasche ausgelaufen war. So habe ich jetzt zwar eine Ausgabe, die recht apart und neu aussieht, aber ich finde darin die Sätze nicht, an die ich mich erinnere, denn sie sind ja nicht angestrichen. Einer der wichtigsten Sätze steht freilich gleich am Beginn des Romans "Ich bin nicht Stiller!" Da wehrt sich einer gegen das Gefängnis einer Identität, die ihm von seiner Umgebung, der eigenen Frau, dem Bruder und den Freunden, aufgezwungen und von Dokumenten festgeschrieben wird. "Das Ich wird ein Kriminalfall", wie Max Frischs berühmter Kollege Friedrich Dürrenmatt über diesen Roman geschrieben hat.

"Stiller" ist 1954 erschienen und bedeutete Max Frischs Durchbruch als Schriftsteller; seine komplexe Erzählweise, die es ermöglicht, dieselben Ereignisse und Erlebnisse aus verschiedenen Perspektiven zu spiegeln, war in der deutschsprachigen Literatur unerhört neu. Vor allem die Unterschiede in der Wahrnehmung Stillers und seiner Frau Julika Stiller-Tschudy brechen in quälender Deutlichkeit auf. Gegen Ende des Romans stirbt Julika. Und der Roman endet mit einem letzten Satz, der so lapidar ist wie der erste: "Stiller blieb in Glion und lebte allein." Am Ende, in der schmerzhaften Erstarrung, wehrt sich Stiller nicht mehr gegen die ihm zugeschriebene Identität. Und aus dem Bildhauer, dem Künstler, ist der Kunsthandwerker, der Töpfer geworden. Ein Satz des Philosophen Adorno könnte einem dazu einfallen: "Wer bloß identisch ist mit sich, ist ohne Glück."

Glück gedeiht nur, wo ein Mensch nicht festgelegt wird. Max Frisch wendet in seinen Tagebüchern das in der hebräischen Bibel auf Gott bezogene Gebot "Du sollst dir kein Bildnis machen" auf den Menschen an und schreibt: "Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis."

Service

Graham Greene, "Der dritte Mann", Paul Zsolnay Verlag
Graham Greene, "Die Kraft und die Herrlichkeit", dtv
Graham Greene, "Unser Mann in Havanna", dtv
Graham Greene, "Das Ende einer Affäre", dtv
Graham Greene, "Die Reisen mit meiner Tante", dtv
Graham Greene, "Der stille Amerikaner", dtv
Graham Greene, "Das Herz aller Dinge", dtv
Evelyn Waugh, "Wiedersehen mit Brideshead", Diogenes Verlag
Evelyn Waugh, "Ohne Furcht und Tadel", Diogenes Verlag
Evelyn Waugh, "Tod in Hollywood", Diogenes Verlag
Max Frisch, "Tagebuch 1946 - 1949", Verlag Suhrkamp
Max Frisch, "Tagebuch 1966 - 1971", Verlag Suhrkamp
Max Frisch, "Stiller", Verlag Suhrkamp


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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: George Gershwin/1898 - 1937
Bearbeiter/Bearbeiterin: Michael Tilson Thomas
Titel: Violin Piece - Gershwin Melody Nr.40
Solist/Solistin: Michael Tilson Thomas /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: CBS MK 39699

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