Gedanken für den Tag

von Wolfgang Müller-Funk, Kulturphilosoph und Essayist. "Dialog: Über das Reden mit Anderen und Anderem". Gestaltung: Alexandra Mantler

"Die Menschen nehmen einander wegen der Stille", heißt es in einem Poem des tschechischen Lyrikers Jan Skácel. Das gemeinsame Schweigen ist Einverständnis, Ausgangs- und Endpunkt des Gesprächs. Dieses Nehmen, auf das das Gedicht abzielt, ist keine Inbesitznahme, viel eher eine Aufnahme. Es gründet auf einem Einvernehmen, das im Schweigen bestätigt wird. Das Schweigen ist, anders als die Ruhe oder die Stille, nicht das Gegenteil des Gesprächs, sondern, wie in der Musik, eine Pause. Miteinander schweigen und miteinander reden zu können, das bedingt sich gegenseitig. Wer miteinander schweigen kann, der kann auch miteinander sprechen.

Warum sprechen wir überhaupt miteinander, warum führen wir intensive Gespräche mit anderen? Weil wir uns mitteilen wollen. Mitteilen, das bedeutet auch etwas teilen, einen Standpunkt, eine Sichtweise, ein Gefühl, ein Erlebnis, vielleicht etwas scheinbar ganz Nebensächliches. Wenn wir uns nichts mehr zu sagen haben, dann ist die Beziehung in Gefahr. Die Stummheit kann ein Einverständnis sein, aber auch die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Es hat uns, wie es heißt, die Sprache verschlagen.

Wir sprechen und schweigen miteinander, weil wir verschieden sind, weil jeder Satz in einem Gespräch, das sich wirklich auf einen anderen Menschen bezieht, eine Annäherung ist, vermutlich eine, in der auch immer ein Moment des Scheiterns steckt.

Wir führen miteinander Gespräche, weil wir unaufhebbar einander fremd sind. Die Fremdheit begründet den Dialog, der ein Sprechen ist, das durch uns hindurchgeht. Der Dialog ist nicht das, was unserer Einsamkeit nachfolgt, sondern was ihr vorausgeht. So stiftet das Fremd-Sein den Dialog, in dem wir nicht nur des und der anderen gewahr werden, sondern in dem wir auch unsere Einsamkeit und Verlassenheit am intensivsten spüren können. Der Dialog ist das wesentlich Dritte zwischen zwei Menschen.

Service

Wolfgang Müller-Funk, "Theorien des Fremden. Eine Einführung", UTB Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Sergej Rachmaninoff/1873 - 1943
Gesamttitel: 6 Preludes aus op.23 von Sergej Rachmaninoff
Titel: Prelude Nr.5 op.23 in g-moll für Klavier - Alla marcia
Solist/Solistin: Svjatoslav Richter /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: JVC VDC 1026

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