Blätter

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Theologin, Germanistin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". Gestaltung: Alexandra Mantler

"Man ging altbekannte Wege, und plötzlich tat sich ein Abgrund auf, in dem alles verschwand". Das schreibt die niederländische Schriftstellerin Anna Enquist in ihrem Roman "Kontrapunkt". Eine Mutter trauert um ihre Tochter. Dieser Roman ist zwar Fiktion, also eine erfundene Geschichte, aber nicht nur. Er ist ein Kunstwerk, mit dem die Autorin einen eigenen Abgrund bearbeitet hat. Denn Enquist hat selbst ihre Tochter bei einem Unfall verloren.

"Man ging altbekannte Wege, und plötzlich tat sich ein Abgrund auf, in dem alles verschwand". Wenn das eigene Kind oder der langjährige Lebenspartner auf einmal stirbt - wie kann man da die altbekannten Wege weitergehen? Und wenn man Schriftstellerin ist: Wie kann man weiterschreiben? Kann man weiter erzählen, erfinden, Romane verfassen?

Schriftstellerinnen und Schriftsteller brauchen das Wort, sie schaffen mit Worten ihre Kunstwerke. Doch der Abgrund lässt plötzlich die Worte verlieren. Andererseits gibt es so etwas wie die Erfahrung der rettenden Kraft der Worte. "Eine andere Antwort auf den schrecklichen Verlust, als über ihn zu schreiben, habe ich nicht", meinte der Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden, nachdem er seinen einzigen Sohn verloren hatte. "Schreiben über Tonio oder gar nicht schreiben - das ist keine Frage der Wahl." Van der Heijden schrieb seinem Sohn ein literarisches "Requiem", er konnte nicht anders, so schwer es ihm auch fiel.

Kunst entsteht hier aus der Trauer, die Trauer hinterlässt Spuren in der Literatur. Die literarischen Werke, die ich im Lauf dieser Woche vorstellen will, von Autorinnen und Autoren, die einen geliebten Menschen verloren haben, bieten keine billigen Vertröstungen. Es ist Literatur, die den erfahrenen Abgrund als Abgrund benennt, sie baut nicht vorschnell Brücken, die dann nicht halten, sobald man darüber gehen möchte, sie beschönigt nicht, wo es nichts zu beschönigen gibt. Aber die aus der Trauer geborene Kunst kann paradoxerweise doch auch so etwas wie Trost schenken.

Service

Anna Enquist, "Kontrapunkt", Luchterhand Literaturverlag
A. F. Th. Van der Heijden, "Tonio. Ein Requiemroman", Verlag Suhrkamp

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Johann Sebastian Bach/1685 - 1750
Titel: Goldberg - Variationen BWV 988 "Aria mit 30 Veränderungen aus Clavierübung IV"
* Variatio 11 - Les Papillons (00:01:18)
Solist/Solistin: Tatjana Nikolajewa /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Relief CR 861006

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