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Radiokolleg - Fleischeslust und Fleischesfrust
Eine kleine Carneologie in vier Kapiteln (4). Gestaltung: Thomas Mießgang
4. Oktober 2018, 09:05
Fleisch ist ein ganz besonderer Stoff: Es liegt als Hassobjekt von Vegetariern und Veganern in Tiefkühltruhen im Supermarkt herum, es wird in fragwürdigen Lokalen in Rotlichtvierteln dem männlichen Begehren feilgeboten, es wird seit Jahrhunderten durch den "Fleischwolf" des Krieges gedreht und mit immer raffinierteren Methoden zerfetzt und zerstückelt.
Fleisch wird benötigt, um Pornografie herzustellen, und in der Popkultur als Modeaccessoire eingesetzt; etwa in dem berühmten Fleischkleid von Lady Gaga, das eine Saison lang das Maß aller vestimentären Dinge war. Das Johannes-Evangelium wagt die kühne Behauptung, dass der göttliche Logos durch den Menschensohn Fleisch geworden sei.
Und auch in der Kunst- und Kulturgeschichte ist die Substanz allgegenwärtig: Georges Grosz, Otto Dix, Lucian Freud, Francis Bacon aber auch Rudolf Schwarzkogler, Hermann Nitsch und Damien Hirst haben wie unzählige andere Fleisch immer wieder zum Thema gemacht.
In Richard Wagners Weiheoper "Parsifal" erleidet das Fleisch des Amfortas durch Klingsors vergifteten Speer eine Verletzung, die nicht mehr heilen mag: "Die Wunde! Die Wunde! Sie brennt mir hier zur Seite!" Fleisch ist aber auch ein Symbol des Verfalls: Die Delectatio morosa, die Lust an Fäulnis und an der Verwesung, beflügelte die Phantasie von Poeten der schwarzen Romantik wie Charles Baudelaire, der darüber ein Gedicht schrieb: "Das Aas".
Der Philosoph, Lyriker und Kulturtheoretiker Volker Demuth hat in einem 2017 erschienenen großen Essay namens "Fleisch" diese verschiedenen Stränge zusammengeknüpft und damit gleich eine neue Wissenschaft begründet: Seine "Carneologie" ist eine "Kulturgeschichte des offenbaren, geöffneten Körpers, seiner Segmentierung und Partialisierung, seiner Industrialisierung und Fetischisierung".
Demuth liefert die Leitidee zu diesem Radiokolleg, das sich als kleines Dérive durch die verschiedenen Schichten und Sektoren des Allzumenschlichen versteht, ob es sich nun um Bodybuildung als normative Formung des Fleisches in Zeiten einer verschärften Körperkonkurrenz handelt oder um Splatterfilme, wo das Fleisch zum Zielobjekt aggressiv eingesetzter Gegenstände aller Art wird.
Fleisch, das aufgrund seiner komplexen zellbiologischen Struktur und Funktion als Muskelgewebe Grundlage unserer Körperkraft und Bewegungsfähigkeit ist, wird zur Metapher für das Menschliche schlechthin. Es führt uns an sämtliche Stellen der Realität, in Armenviertel wie in Luxussuiten, in Schlachthäuser wie in Kreißsäle, zu Organhandel, plastischer Chirurgie und Biowissenschaft. Und in der Denkfigur der "Deinkarnation" - der Befreiung vom Fleische - sogar darüber hinaus.
"Den Menschen überwinden" - das war ein Projekt von Friedrich Nietzsche, das im Zeitalter der Körperprothesen / der prothetischen Körper und der Cyborg-Philosophien immer plausibler erscheint. Doch vorerst halten wir es noch mit dem Maler Francis Bacon, der einmal laut ausgerufen hat: "We are Meat. Cheerio!"
Service
Literatur:
Volker Demuth: Fleisch Versuch einer Carneologie, 332 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin 2016
Fahim Amir: Schwein und Zeit, 208 Seiten, Edition Nautilus, Hamburg 2018
Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 391 Seiten, Wilhelm Fink Verlag, München 2011
Jean Amery: Jenseits von Schuld und Sühne, 173 Seiten, Klett Cotta, Stuttgart 2015
Donatien Alphonse Franacois de Sade: Die 120 Tage von Sodom, 479 Seiten, Anaconda Verlag, Köln 2006
Jonathan Safran Foer: Tiere essen, 400 Seiten, Kiepenheuer&Witsch, 2010
Sex in Wien (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung), hg: Wien Museum, Wien 2016
Sendereihe
Gestaltung
- Thomas Mießgang