Das Dorf der vierzig Tartaren

15. Dezember 2022, 06:56

Etwa zehn Kilometer südlich von Vilnius war da auf einmal ein Schild, das von der Hauptstraße nach rechts wies und auf dem ein unaussprechlicher Name stand.

Wer stößt nicht sofort seine Reiseplanung um, wenn er von der Existenz eines Ortes namens Keturiasdeschimt Totoriu erfährt? Nach einer halben Stunde war ich dort, am Sonntag schien die männliche Bevölkerung vollzählig vor dem einzigen Kaufhaus versammelt zu sein, um im Stehen aus großen Gläsern Wodka zu trinken. Sie waren nicht sehr redselig, erklärten mir aber immerhin, dass Keturiasdeschimt Totoriu "Dorf der vierzig Tataren" heißt.

Später, als ich durch den Ort ging, kamen mir etliche Frauen entgegen, die interessierter und interessanter waren als ihre Männer, die sich wortkarg ihrem Sonntagsrausch entgegentranken. Die Frauen, die die Woche über in Vilnius arbeiteten, kamen gerade von der sonntäglichen Arbeit auf den Feldern zurück und wandten sich dem Fremden neugierig zu. Vor über 500 Jahren, erklärten sie mir, hatte ein litauischer Fürst Tataren von der Krim ins Land geholt und als Leibwächter angestellt. Noch heute würden in Litauen rund 6000 Tataren leben: "Wir sprechen gleich gut Litauisch, Weißrussisch, Polnisch, aber leider kein Tatarisch mehr".

Was dann das Tatarische an ihnen sei, wollte ich wissen: "Nun, natürlich dass wir keine Juden und keine Christen, sondern Muslime sind." In Keturiasdeschimt Totoriu leben Muslime, bei denen die Männer Schnaps trinken und die Frauen einen fremden Besucher auf der Straße ansprechen, um ihm stolz das Gebetshaus zu zeigen und ihn darüber aufzuklären, was es mit Geschichte, Sprache, Religion und Gegenwart der Tataren Europas auf sich hat.

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• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler