Gemeinsam erinnern
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Eier wurden nach einer Kontrolle abgenommen
Helga Wöber - 26. Juni 2025, 09:56
Wir sind dann einmal von Langenlois mit einem Transportunternehmen, Kargl hieß das, nach Wien gefahren und meine väterliche Großmutter in Langenlois hat meiner Mutter Eier mitgegeben. Und meine Mutter hatte diese Eier mit und die wurden bei einer Kontrolle von Russen gefunden. Und dann haben sie meine Mutter mitgenommen. Wir Kinder sind auf dem Lastwagen gesessen und haben uns natürlich gefürchtet, weil die Mutter weg war. Und meine Mutter hat dann erzählt, die Russen wollten sie nicht loslassen und wollten noch etwas von ihr wissen. Und sie gesagt, als Zeugin, sie kann sagen, dass sie uns Kinder befragen sollen. Und das war dann auch so wir durften mit Mutter ohne Eier nach Wien fahren. Und meine mütterliche Großmutter in Liesing: Da waren in dem Haus russische Offiziere einquartiert und da haben wir, da muss ich schon so sieben, acht gewesen sein habe, kann ich mich erinnern, dass Zimmer voller Wanzen waren und die wurden ganz einfach mit DDT beseitigt.
Fenster mit Packpapier und der heimgekehrte Vater
Helga Wöber - 26. Juni 2025, 09:44
Ich bin Jahrgang 1940, und wir waren als Kinder entweder bei der einen Großmutter in Liesing oder bei den anderen Großeltern in Langenlois, mein jüngerer Bruder und ich. Und ich kann mich erinnern, dass hinter einer Türe immer eine Tasche gestanden ist mit der nötigsten Sachen. Wenn die der Fliegeralarm kam, dann mussten wir mit dieser Tasche in irgendeinen Keller. An den Keller kann ich mich in Langenlois nicht mehr erinnern. Und wir haben also jeden Tag zu den Sternen geguckt und gehofft, dass unser Vater aus dem Krieg wieder zurückkommt. Aber wie ich fünf war nach dem Krieg im Herbst hat meine Mutter mich nach Wien geholt und hat mir die Wohnung gezeigt, die ich ja nicht in Erinnerung oder überhaupt nicht kannte. Und da war alles so finster, weil die Fenster alle noch mit Packpapier und Kartons verklebt waren. Und da habe ich mich richtig gefürchtet. Und von diesen verklebten Fenstern habe ich eigentlich in all diesen Geschichten nichts gehört. Mitgedacht. Das muss ich erzählen, wie das bedrückend war, dass kein Licht auf die Straße scheinen durfte wegen der vielen Bomben. Das muss im Herbst 45 gewesen sein. In meiner Erinnerung, ob es wirklich so war, ich kann meine Mutter nicht mehr fragen, aber das ist mir so in Erinnerung, diese Finsternis in der Wohnung, wenn alles so verklebt war. Und ich kann mich auch erinnern, wir durften dann nach Wien kommen, weil meine Mutter mit der sogenannten Milchfrau die es damals noch gegeben hat - man musste also Milch in einem Geschäft kaufen, wo es nur Milch und vielleicht auch Käse gab - und da ging man mit einer Milchkanne Milch holen. Und diese Milchfrau hat von meiner Mutter versprochen, dass sie jeden Tag für uns Kinder 1/8 oder Viertelliter Milch bereithält. Und da durften wir erst nach Wien kommen. Unser Vater ist 45 zurückgekommen, und mein Bruder hat ihn begrüßt, so quasi: "Wozu brauche ich einen Vater? Ich hab eh eine Mutter." Also, das muss auch ganz furchtbar gewesen sein für den Vater. Da sagt ein vielleicht dreijähriges Kind zum Vater: „Wozu brauche ich dich? Ich habe eine Mutter.“ Wir haben ja in Langenlois jeden Tag zu den Sternen geschaut und gebeten, dass unser Vater wieder zurückkommt. Also Vater war schon ein Begriff.
Brave Buben durften Krieg spielen
Ludwig Blamberger, Jg. 1943 - 25. Juni 2025, 17:41
Und zwar: Es geht um einen christlichen Kindergarten im Salzkammergut. Ich bin 1943 geboren und 1948 und 49 war ich dort im Kindergarten. Es waren ungefähr 25 Kinder, die Hälfte davon Buben und die Hälfte Mädchen. Und es gab folgende Geschichte: Wenn wir im Kindergarten, wir Buben im Kindergarten sehr brav waren, dann hat die Schwester Belinda selbst und die Kindergärtnerin eine Truhe aufgemacht und in der Truhe war ein Pappmachéhelme in Soldatengrün, und wenn wir brav waren, durften wir damit Krieg spielen.
Bei Gesprächen über den Krieg ging mein Vater
Ludwig Blamberger, Jg. 1943 - 25. Juni 2025, 17:38
Ich kann mich nur an eines erinnern, dass viele Männer, wenn wir einen Ausflug gemacht haben, dann immer irgendetwas über den Krieg erzählt haben. Und dass mein Vater dann immer aufgestanden und gegangen ist. Also das sind die Eindrücke. Zu Hause hat er nie drüber geredet. Und auch alle Gespräche mit anderen über den Krieg hat er gemieden, wenn die meisten über Kriegserlebnisse, wo sie Helden waren, erzählt haben. Ich habe nur eine Erinnerung, dass er in Kiew war, in der Ukraine und irgendwo am Rande mit diesen Erschießungen zu tun hatte. Ja, ich bin ein absoluter Pazifist. Ich habe das einfach erlebt, was da war und der Verlust. Und ich sehe diese vielen Leute, die gestorben sind. Also für mich war das eine Geschichte, die unvorstellbar ist und ich fühle mich auch in dieser Zeit hier nicht wohl, wo ein Schritt zurück passiert in die Vergangenheit und man sich wieder gegenseitig über Kontinente hinweg anbrüllt, und das ist einfach eine fürchterliche Geschichte.
Kauf dir ein Schaf und schlaf!
Michael Romirer - 25. Juni 2025, 16:11
Das hat auch der Vater ganz zum Schluss erzählt, das ist so gegangen im Volksmund: „Kauf dir ein Schaf und schlaf!“ Die Bauern haben müssen bestimmte Kontingente von ihrem Stierbestand zwangsabliefern. Also wenn man mehrere Ochsen gehabt hat, das ist pro Betriebsgröße vorgeschrieben gewesen, bei uns ist ja Rindergegend, ja, und der Schafe gehabt hat, ist davon ausgenommen gewesen. Da hat man halt nicht direkt formuliert, sondern einfach gesagt: „Kauf dir ein Schaf und schlaf!“ Ja, das hab ich sehr oft gehört immer wieder.
Verschwundene Russen im Wechselgebiet
Michael Romirer - 25. Juni 2025, 13:59
Ich komme aus Vorau, und weiter oben auf der Alm haben wir Verwandte, die haben nichts gehabt und die haben die ganze Zeit in den 60er und 70er Jahren nur von dem erzählt und auch jetzt auch mein Vater am Schluss, da hat er dann unglaublich schöne Dinge und auch nicht ganz schöne Dinge erzählt. Bei uns im Wechsel Gebiet, da sind ja so viele russische Soldaten verschwunden und mein Vater, der hat mir dann Dinge erzählt ja wie das wirklich war oder seine Wahrnehmung oder sein Wissen. Und das ist, ja glaube ich, auch hochbrisant noch immer, weil das waren Morde, da hat man Leute verschwinden lassen, eingraben irgendwo und so. Und zwar, weil da hab ich den Zettel, das ist vielleicht eines der haarsträubendsten Erzählungen. Das waren im Hochwechselgebiet, Seppling-Karndorf; da sind die Russen plündern gekommen, mehrere und die haben sich da aufgeteilt bei den Bauern und bei dem Seppling-Karndorf haben sich die Bauern dann getroffen, weil er war der der höchstgelegene Bauernhof, am nächsten da am Wald und ausgesetzt, denn die vorrückenden Russen, die haben sie dann umgebracht. Und einer war dabei, der war ganz stark rothaarig und den haben sie fast nicht ermorden können. Der hat sich furchtbar gewehrt, den haben sie Haare ausgerissen und die haben mit einer Kette um die Augen geschlagen. Und da haben sie ihn dann mit einer Hacke erschlagen und im Misthaufen dort eingegraben. Ich habe ja jetzt eine Stunde überlegt, ob ich anrufen soll oder nicht. Das sind viele solche Dinge und hier so ich kenn ja die Almgegend, es ist ja so, der Staat war ja weit weg. Die haben hier sich alles selbst organisieren müssen, da hat es keine Straßen hin gegeben, keine Wege, und das ist eine sehr verschworene Gesellschaft, die Nachbarschaftshilfe usw. und ist sehr groß geschrieben und die waren ja auch nicht zimperlich, die haben ja furchtbar gehaust, gelebt, zum Teil Leute, die haben ja nicht einmal Socken gehabt, das hab ich als Kind noch gesehen, der hat da seine Stiefel gehabt und der hat irgendwelche Fetzen herum und auch im Schuh irgendwelche alte Fetzen umgewickelt und mit die ist er reingeschlüpft und ist gegangen. Das waren so ganz, ganz, ganz urtümliche, einfache religiöse Leute, sehr arbeitsam, fleißig, sehr gute Handwerker, haben sich alles selbst gemacht, Haus selbst gebaut, aus nix eigentlich. Und dann, nach dem Krieg, ist es auch viel Glump herum gelegen, da haben sie den ganzen militärischen Schrott irgendwie verwertet. Der eine hat sich einen Traktor zusammengebaut und was weiß ich. Und mit den Gewehren sind sie dann wildern gegangen, dann haben sie endlich ein Gewehr gehabt, das ordentlich gegangen ist, hat er gesagt usw. Mein Vater hat irgendwo auch da so diese Barrieren fallen lassen, im hohen Alter und. Und hat einfach erzählt, dass ja, da sind zwei Russen sind ermordet worden, also bei dieser Hofstelle. Also er gibt in dem Kontext ja auch an, es waren wesentlich mehr, da gibt es ein Wirtshaus in Kleinschlag, da war der Wirt, da gab es diese Durchreiche aus der Küche hinaus ins Gastzimmer, ein Fenster, das Hungerloch, und der hat dort herausgeschossen und hat auch welche umgebracht, die Frauen vergewaltigen wollten.
Der wild aussehende Mann war mein Vater
Otto Schöffel - 25. Juni 2025, 11:29
Mein Vater ist dann irgendwann zurückgekommen. Da war ich dann schon sieben Jahre alt von der Kriegsgefangenschaft, und die haben wenig erzählt. Wenn man gefragt hat, hat man nicht sonderlich viel Antwort bekommen. Für mich tragisch war das Zurückkommen. Ich habe im Mühlbach, der bei so einer Mühle dabei ist, gebadet und. Und plötzlich kommt da ein wild aussehender Mann auf mich zu, nimmt mich und hält mich fest im Arm. Ich habe zu schreien begonnen. Ich hab ihn ja nicht erkannt. Es war immerhin meine erste bewusste Begegnung mit meinem Vater. Ich bin davongelaufen zur Mama und habe geschrien, Mama, Mama, da ist ein fremder Mann, der will mir was tun. Also mein erster Kontakt mit dem Vater ist so abgelaufen, a Katastrophen. Es war schwer für mich und hat lange gedauert, ein Verhältnis zum Papa aufzubauen. Der war immer nett zu mir und immer freundlich. Ich bin nur leider dann mit zehn Jahren schon in ein Klosterinternat gekommen, weil ich ja was studieren sollte und mein Bruder war aus, war für die Nachfolge der Mühle auserkoren. Er war immer lieb zu mir und ich hoffentlich auch zu ihm. Wir sind erst kurz und spät zusammengekommen.
Bomben zerfetzten einen Bauern und sein Pferd
Otto Schöffel, Jg. 1939 - 25. Juni 2025, 10:59
In Roseldorf, das ist eine kleine Gemeinde im Bezirk Hollabrunn. Und in dieser kleinen Ortschaft bin ich aufgewachsen in einer Wassermühle. Im Frühjahr 1945, also am Ende des Krieges. Ich war sechs Jahre alt. In dieser Mühle ist noch ein Bauer, weil Mittagszeit war, mit seinem Pferdefuhrwerk dagestanden und hat auf sein Mehl gewartet. Und ich habe mich als 6-jähriger Bub immer mit den Pferden verständigt, habe denen was zu fressen gebracht. Und so auch damals. Und plötzlich schrie meine Oma vom Fenster runter, ich möge die Leute zum Essen holen. Ich war Gott sei Dank ordentlich und bin sofort weggelaufen in den Hof. Plötzlich ein lauter Krach. Ich bin zurückgelaufen und hab gesehen, wie der Bauer und das Pferd fast zerfetzt und tot dort lagen. Ein russisches Flugzeug hat bombardiert. Und zwar einen Konvoi voll deutscher Soldatenautos.
Männerknappheit, starke Mütter und Wärmestuben
Martha Hansl, Jg. 1944 - 25. Juni 2025, 10:40
Die letzten Heimkehrer sind erst 1955 aus den Kriegsgefangenenlagern nach Hause gekommen. Bis dahin war ja die Männerknappheit in Wien sehr, sehr groß. Und in meiner Klasse waren 50 % der Kinder ohne Vater. Zum Teil wusste man, er ist im Krieg gefallen. Oder man wusste nicht, kehrt er irgendwann einmal heim. Zu Weihnachten: Es gab nichts zum Schenken. Da hat man eine Kleinigkeit bekommen, nach heutiger Sicht nicht einmal der Rede wert. Man hat sich über selbstgestrickte Fäustlinge oder Socken oder Schals gefreut. Der Großteil dieser vaterlosen Kinder hat auf die Frage, was sie sich wünschen, gesagt, na ja, vielleicht dass der Papa nach Hause kommt, weil die Mama ist ja so allein. Also das hat mich damals als Kind so berührt, weil ich hatte das Glück, einen sehr alten Vater zu haben, der nicht mehr eingezogen wurde in den Krieg. Und da muss ich aber anhängen, dass diese Mütter, diese Frauen ja alleine waren. Und das waren für meine Begriffe, für mein Empfinden, das waren wahre, emanzipierte Frauen, die haben gar keine andere Chance gehabt, mit ihren Kindern oder auch alleinstehend zu überleben, sondern die haben einfach getan aus innerer Kraft, dass sie das Leben bewältigen konnten und dass den Tag mit den Kindern verbringen konnten, so gut es geht. Und das war für mich so ein einschneidendes Erlebnis, dass ich das immer, immer wieder erwähnen möchte. Dass man diese Besonderheit, diese Tapferkeit, diesen Mut, diese Kraft, diese Stärke nach diesem Krieg von diesen Frauen hochhält. Das war eine Sache, die mich sehr, sehr bewegt hat. Und dann eine zweite Sache: Ich habe in einer Seitengasse von der Mariahilfer Straße nahe des Bahnhofs gelebt. Damals waren noch die Winter voll Schnee und weil keine Autos gefahren sind, sind wir immer runter gerodelt nach der Schule. Und wenn wir da runtergerutscht sind, sind ältere Leute immer diese Straße hinaufgegangen und sind im magistratischen Bezirkshaus bei einer Tür hineingegangen. Das ist das Bezirksamt des 15. Bezirkes, Gasgasse, Staglgasse. Und wir haben immer gefragt, warum gehen diese Leute da hinein? Und wenn´s finster wird, gehen sie wieder heraus. Und das waren die ersten Wärmestuben. Diese alten Leute konnten sich für einige Stunden aufwärmen, weil zu Hause war ja gar nichts zum Heizen da. Und die haben dort einen Tee oder so ein kaffeeähnliches Gebräu bekommen, dass sie sich aufwärmen konnten. Und das war eigentlich der Grundgedanke der heutigen Pensionistenclubs. Und das war auch für mich sehr, sehr berührend. Und die Gründung sollte man der Stadt Wien sehr hoch anrechnen, und das ist ja bis heute weiter geblieben, aber natürlich in einem ganz anderen Stil. Das kann man ja gar nicht vergleichen die Zeit.
Kind nach 1945
Alice Harmer - 25. Juni 2025, 00:57
Auszug aus dem Buch: Alice Harmer „Auf dem Dach ist die Aussicht endlos oder Die Nachzüglerin"
Der Winter 1945/46 war kalt wie nie zuvor.
Ausgerüstet mit schwerem Mantel aus Gummi, Haube und Stiefeln aus Leder, trat der Mann in die Pedale, lenkte das Rad vorsichtig über hartgefrorene, holprige Erde. Die Beiwagenmaschine, die er sich als Geselle erspart und im Stroh verborgen hatte, konnte er nicht mehr finden. Im Krieg ging vieles verloren. Als der gute Bürger zur Landesverteidigung befohlen wurde, musste er seine Familie verlassen. Unter Militärkommando war er fünf Jahre lang unterwegs in Italien, Frankreich, Belgien, Ungarn bis vor Stalingrad, um dort von Granatsplittern niedergestreckt zu werden. Sein Auftrag: Vieh zu arisieren und daraus Gulasch zu kochen. Die Erinnerung an Bäuerinnen, die ihre einzige Kuh festhielten und sich mitschleifen ließen, haftete jahrzehntelang an dem Soldaten, die verzweifelten Bitten, erschütternden Klagen, hallten in seinem Ohr. Nach Ende des Krieges trug er im Rucksack sein eigenes Werkzeug. Wahlweise stieg er vom Rad, öffnete ein Tor und bot seine Dienste als Schlächter an.
„Eins zwei drei ...“ Kinder rannten in alle Richtungen, sie spielten Verstecken. Im Streckhof fanden sie schattige Winkeln, Holzverschläge, finstere Schuppen, leere Ställe. Während des Krieges waren alle Kühe, Schweine, Hühner, Enten, Schafe konfiziert worden und für Heeresnnahrung verwertet. Die Rösser mussten marschieren und Lasten tragen. Nur brave Hunde überlebten.
Das Baby lag zuerst im Wäschekorb, dann in einem Bettchen auf Rädern, draußen im Hof. Daneben scharrten ein paar Hühner Regenwürmer aus der Erde. Das Kind plärrte. Ein großes Mädchen sollte es beruhigen und schaukelte, wippte, schüttelte das Gefährt immer heftiger bis es umkippte. Dann war es still. „Ich mag diese Puppe nicht“, heulte die Elfjährige später. Mutter hatte versprochen, dass die Puppe, die auf der Flucht vom Wagen gefallen war, zu Weihnachten wiedergebracht werden würde. Aber es gab keine Wunscherfüllung. Ein Schwesterchen ward geboren, ein zuerst lachendes und bald heulendes, danach ein wimmerndes. Es schrumpfte. Seine Haut verunstaltete sich mit Flecken und eitrigen Pickel, die Augen verklebten zugeschwollen. Schließlich wurde es von der Rettung abgeholt.
„Welche ist Ihre allererste Erinnerung?“ fragt die Therapeutin.
„Ich stehe auf dem Küchentisch, umringt von Augen, die mich anstarren. Ich setze mich nieder und lutsche meine Zehen.“
Die Nachzüglerin
Die Familie vermisste das vierte Kind nicht, es sei im Krankenhaus gut aufgehoben, hoffte dessen Mutter und betete jeden Abend dafür. In den Köpfen der Geschwister verblasste die Episode mit dem plärrenden Weihnachtsgeschenk.
Das Mädchen, das an einem sonnigen Tag geliefert wurde, war völlig fremd. Furchtsam blickte es aus großen blauen Augen. Heller Flaum bedeckte den Kopf, das rosa-blaue Strickkleid konnte die extrem krummen Beine nicht verbergen.
„Ich bin deine Mutter“, sagte ein freundlich lächelnder Mund „und das ist dein Vater“, der Größte mit streng gekämmter Frisur und buschigen Brauen. „Großvater“, mit gezwirbeltem Schnurrbart, „Großmutter“, eingerahmt von Blaudruck, eine Schwester, zwei Brüder ... verschiedene Namen und Gestalten.
Unruhe im Haus: ein Laufen, ein Heben und Tragen, Hacken und Rühren ... Die kleine Unbekannte wuselte zwischen Riesen und fuchtelnd verscheuchenden Armen umher. Zwischendurch fing die Mutter mit offener Hand surrende Fliegen, um sie in ihrer Faust zu zerquetschen. Das Kind, so groß wie der Hund, hielt sich an dessen verfilztem Zottelpelz fest.
Wenn die Letzte die Spiele der Geschwister störte, wurde sie von ihnen in den dunklen Keller gesperrt oder in den kackeklebrigen Hühnerstall.
Barfuß
Die Nachzüglerin, ungeduldig, wollte ihre Geschwister einholen, überholen. Sie lernte klettern. Ihre nackten Zehen hakte sie in den Maschenzaun, krallte ihre Finger an Querstreben, schob ein hölzernes Fenster zur Seite und trat in eine weiche Staubschicht. Unter niedrigen Balken lagerten Teile der Vergangenheit in Kisten: zerbrechliche Papiere mit verblichener Schrift, modrige Mäntel, unförmige Hüte, steife Stoffe, ein räudiger Pelz. Kein einziger Schatz.
Durch eine Luke hievte sie sich hinaus auf das Dach, schlich auf allen Vieren sanftpflotig wie eine Katze die steile Schräge über gerillte Ziegel und saß schließlich auf dem First. Ein Moospölsterchen. Rundum Schilf, Eternitplatten, Schindeln, Wellblech, Rauchfänge, Baumwipfeln. Endlose Aussicht. Ein Gedanke wurde zum Ziel: weit fort fliegen ... und eines Tages würden alle staunen, wenn sie die Stimme der Ausgewanderten aus dem Radio hörten.
Muttertag.
Im Sommer 1945 verließ eine Fünfunddreißigjährige den Zug, um ihren verwundeten Mann im Lazarett zu besuchen. Sie marschierte durch einen Wald, querte ein Feld, stieg über herumliegende Soldatenleichen. In ihrem Bauch krallte sich ein Embryo fest
danke liebe Mutter
dass Du mich nicht verloren hast!