Septemberbrise

Von: Klaus Schedler | 30. Dezember 2023, 13:42

In den frühen 70ern wurde ich auf Dusty Springfields Soul-Ballade „Summer is over“ aufmerksam. Der Song beschrieb die Naturschönheiten des beginnenden Spätsommers, wobei die melancholische Abschiedsstimmung der letzten Wochen vor der kommenden grauen und kalten Jahreszeit zum Ausdruck gebracht wurde. Dabei fand ich es besonders originell, wenn es in der letzten Strophe auf Englisch sinngemäß hieß „sogar die Bienen sausen vorbei, ohne zum Abschied Tschüss zu sagen“.
Nach der getragenen Melodie mit dem wehmütigen Text fand ich diese Zeile recht humorvoll, so als ginge es darum, sich trotz des beginnenden Herbsts nicht die Laune verderben zu lassen, weil wir doch wissen, dass auf jede kalte Jahreszeit ein Wiedererwachen der Natur und ein neuer Sommer folgen wird, in dem auch wieder Bienen fliegen werden. Warum also Abschied nehmen?
Heuer hatte ich gegen Ende August begonnen, in einem Teil unseres uralten Hauses im Waldviertel die Innentüren aufzuarbeiten. Eine langweilige Tätigkeit, die viel Gelegenheit zum Nachdenken bietet. Die Fenster standen stets offen und die warme Sommerbrise durchzog jenen Teil der Wohnung, in dem ich arbeitete. Immer wieder dachte ich dabei an dieses Lied der zu früh verstorbenen Dusty Springfield. Und natürlich geht es im Text nicht nur um den Spätsommer, sondern im übertragenen Sinn auch um den Herbst unseres Lebens.
Jung bin ich nicht mehr; der 70er ist Geschichte und nun wurde mir beim Schleifen, Spachteln und Streichen klar, dass ich diese Arbeiten zum allerletzten Mal verrichte. Sollte ich einst einmal daheim sterben dürfen, wird man das, was von mir auf Erden bleibt, durch ebendiese Tür tragen, an der ich nun arbeitete. Bei diesem Gedanken fielen mir die dann die lustigen vorbeifliegenden Bienen ein, die sich deshalb nicht verabschieden, weil wir einander doch ohnehin bald wiedersehen werden.
Nach Tagen waren die Türen fertig. Zum Ausspannen legte ich nach Jahren wieder eine Schallplatte von Dusty Springfield auf – und da kam er wieder, dieser Song. Nun hörte ich genau auf den Text und besonders auf die letzte Strophe mit der vermeintlichen Zeile „the bees hurry by without even goodbye“. Doch halt, hatte ich mich etwa verhört? Tatsächlich! Eigentlich heißt es „the BREEZE hurries by without even goodbye“. Meine Reaktion: “Booah, HÖRE ICH ZUM ERSTEN MAL.“ Klartext: Es ging also gar nicht um Bienen, sondern um eine Brise.
Wieder einmal hatte mich meine Wahrnehmung getäuscht: Meine ursprüngliche Übersetzung mag zwar grundfalsch sein, doch werde ich bei ihr bleiben, denn sie ist ja viel hübscher. Mit Perspektive!

Übersicht:
Track 5’ - Höre ich zum ersten Mal