Schöne Lüge oder bittere Wahrheit

Von: Ö1_Schöne Lüge oder bittere Wahrheit | 13. Jänner 2023, 10:30

Er lügt. Er lügt mich schon wieder an. Ich sehe es genau. Seine Augen verraten ihn. Besser gesagt: Der Glanz in seinen Augen verrät ihn. Doch seine Lüge klingt so schön in meinen Ohren, dass ich sie einfach glauben will. Glauben muss. Denn ich denke, dass ich die Wahrheit nicht ertragen könnte. Ich könnte sie wohl nicht nur nicht ertragen - nein - ich würde es nicht überleben.
„Keine Angst, geh nur mit. Alles wird gut werden, dir wird nichts passieren,.“ Das versichert er mir Das war`s. Das waren seine letzten Worte bevor ich gewaltvoll aus seinen Armen gerissen werde. Ich will mich noch an ihm festklammern, doch ich bin zu schwach. Gerne wäre ich so stark gewesen wie er. Warum hält er mich nicht fest? Warum lässt er mich gehen? Ich winde mich in den Armen der bösen Frau, doch sie lässt nicht locker und manövriert mich auf den Rücksitz ihres SUVs. Ich schreie und sehe durch die Heckscheibe hektisch zurück zu meinem Vater, und wie er dasteht, völlig in sich zusammengesunken, weiß ich, dass auch er mich insgeheim nicht loslassen will. Unsere Blicke treffen sich und er schaut schnell weg. Wieder verraten ihn seine Augen. Seine Tränen brechen mir das Herz und ich fühle, dass auch sein Herz in diesem Moment in tausend Stücke zerbricht. Und ich frage mich: Werden wir uns wohl wiedersehen? Und wann? Ich schreie weiter und trete um mich, doch schon als er aus meinem Sichtfeld verschwindet, weiß ich, dass ich den Kampf bereits verloren habe. Und noch schlimmer: Dass ich damit wohl auch ihn verloren habe. Er war der einzige Mensch, der immer für mich da war. Der einzige, der mich von innen wärmte, als mir kalt war, der mir gut zuredete, als ich nicht mehr weiterwusste, der mich in den Schlaf wiegte, als niemand anderes mein Weinen hörte. Er war der eine, der mir seine Liebe schenkte, als niemand anderes es tat und der einzige, der blieb, als alle anderen mich verließen. Er war alles für mich und nun ist auch er fort. Was sollte mein Leben jetzt noch bedeuten?
Irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich aufwache befinde ich mich an einem mir völlig unbekannten Ort mit einem völlig fremden Mann. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, doch als er sich als mein Vater vorstellt, starre ich ihn fassungslos an. Wie konnte dieser Fremde es bloß wagen? Lügen war ich gewohnt, doch das ging eindeutig zu weit. Ich wusste wer mein Vater war - und er war es ganz sicher nicht! „Bring mich zurück zu meinem echten Vater!“, schreie ich. Doch er meint nur: „Ich bin dein echter Vater, Marie. Erkennst du mich denn nicht? Du hast bloß schlecht geträumt. Nein, nein, das kann nicht sein. Ich weiß, wie mein Vater aussieht. Naja, wobei - sein Aussehen habe ich komischerweise nur mehr vage in Erinnerung. Es kommt mir bereits wie eine Ewigkeit vor, dass ich von meinem Vater getrennt wurde, doch ich fühle, dass dies hier nicht mein Vater ist. Mein Vater erinnert mich immer an Liebe und nicht an Schmerz wie dieser Mann hier. Ich will wieder zu meinem richtigen Vater. Ich renne - auch wenn ich nicht genau weiß wohin. Aber Hauptsache weg von diesem Mann und seinen Lügen. Ich bin schon an der Tür angelangt, als er mir nachschreit: „Marie, jetzt warte doch! Ich war nicht immer ein guter Vater für dich und ich habe es wieder einmal vermasselt, das weiß ich, doch ich will es doch wieder gut machen! Kurz erstarre ich, doch dann fällt mir wieder ein, von wem meine blauen Flecken sind und ich laufe. Ich laufe, bis ich nicht mehr kann. Und dann plötzlich ist er wieder da. Mein Vater! Schon aus tausend Metern Entfernung würde ich ihn erkennen. Auf der anderen Straßenseite steht er. Voller Vorfreude renne ich auf ihn zu, doch kurz vor ihm mache ich halt. Irgendetwas an ihm ist anders. Wortlos sehen wir uns in die Augen. Dann meint mein Vater: „Wie soll ich das sagen? Aber der Tod ist die bittere Wahrheit.“

Übersicht:
Track 5' - Wie soll ich das sagen?