Viva Espana

Von: grabenhoferv | 21. Juli 2017, 18:38

Die Geschichte handelt von mir als Nachkriegsgeborene, die das Erbe einer Generation in sich trägt, die ihr Leben auf Sparflamme flimmern lassen musste. Gespart wurde sowohl mit Geld als auch mit den eigenen Gefühlen.

Im Sommer 1967 war ich 15 Jahre alt. Unsere Urlaubsreise sollte nach Spanien gehen, genauer gesagt nach Torredembarra, wenige Kilometer von Tarragona entfernt. Dort fuhren wir jedes Jahr hin, immer auf denselben Campingplatz "La Pineda", und wenn wir dort auch noch denselben Zeltplatz wie die Jahre zuvor ergattern konnten, war für meine Eltern die Welt in Ordnung.
Tage vor der Abreise begann mein Vater den grauen VW-Käfer für die Reise zu adaptieren. Die hintere Sitzbank wurde herausgenommen. Das kleine Auto wurde voll geladen, bis es nichts mehr schlucken konnte. Alles, was wir für sechs Wochen Aufenthalt brauchten, musste mit: das Steilwandzelt, Gaskocher mit Gasflasche, Klapptisch und -stühle, Luftmatratzen, Kisten voller billiger Konservendosen von Aldi, Stöße von Heften und die Bleistiftkolonnen meines Vaters. Mein Vater sammelte nämlich Bleistiftstummel, die er in hölzerne Verlängerer schraubte und mit einer Maschine, die am Tisch festgeschraubt wurde, spitzte. Auch die kam mit. Mein Vater packte, bis der Dachträger sich krümmte und im Inneren des Autos kein Millimeter Platz mehr mit Leerraum verschwendet war.
Meine Mutter saß vorne, mit vollgepackten Eimern zwischen den Beinen und Taschen auf dem Schoß. Diesmal hatte mein Vater das Auto so voll geladen, dass für meine kleine Schwester Claudia und mich hinten zwischen Gepäck und Autodach cirka. 30 Zentimeter Platz blieben, um die ganze Reise flach zu liegen. Als wir die kleine Straße von unserer Siedlung in den Ort hinunter tuckerten, stieg in mir eine derartige Wut empor, dass ich es mit einem kräftigen Schubs schaffte, dass das Gepäck unter uns ins Rutschen kam und meinem Vater ins Genick polterte.
Fluchend brachte mein Vater den Wagen mit einer Vollbremsung zum Stehen und jetzt wurde umgeladen. Meine Mutter stöhnte gequält auf: "Ja, sag mal,
Marcel, wie dämlich hast du denn diesmal gepackt!", während mein Vater schimpfend mitten im Ort in aller Herrgottsfrühe den Wagen ausräumte und das Gepäck am Straßenrand deponierte. Ich betete flehentlich, dass keine meiner Mitschülerinnen zu dieser Tageszeit schon unterwegs war, um Semmeln fürs Frühstück zu holen. Es dauerte eine knappe Stunde, bis mein Vater umständlich und schwitzend alles wieder in Reih und Glied verstaut hatte, mit dem Unterschied, dass Claudia und ich wieder jeweils 30 Zentimeter Platz hatten, nun aber in der Senkrechten.
Dann ging es endgültig los auf die dreitägige Anreise. Stunde um Stunde mühte sich der Käfer über Straßen, Autobahnen und Pässe mit einer Höchstgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern. Mehr schaffte er nicht. Ungerührt hielt mein Vater das Lenkrad fest, den Blick starr auf das Stückchen Straße vor ihm gerichtet.
In den seltenen Fahrtpausen auf diversen Parkplätzen jagte die ganze Familie erst aufs Klo. Dann verdrückten wir eilig die selbst gestrichenen Brote aus Vaters silberner Blechdose, die er noch aus dem Krieg besaß. Essen gingen wir nie - undenkbar bei diesen Preisen.
Übernachtet wurde meistens auf einem Campingplatz, aber diesmal waren wir zu spät dran und es gab keinen freien Platz mehr. Also schlief mein Vater im Auto und meine Mutter mit Claudia und mir auf einer Bahnhofsbank. Keine Strapaze war zu groß, wenn man dabei Geld sparen konnte.
Als wir dann erschöpft am Ziel ankamen, musste zuerst das Zelt aufgebaut werden. Mein Vater schimpfte, weil wir die Zeltstangen nicht gerade hielten. Wir lieferten unseren Zeltnachbarn gleich ein spannendes Straßentheater, indem wir Einblick in unsere missliche Familiensituation gewährten. Ich wäre am liebsten zu einem winzig-kleinen Staubkörnchen im spanischen Sand implodiert, denn mein Vater äußerte sich nur im Kommandoton und es war ihm auch nicht möglich, die Lautstärke zu regulieren. Er schien gar nicht zu bemerken, dass da noch andere Leute waren und breitete unsere Utensilien in weitem Umkreis aus, als wären wir allein auf weiter Flur.
Für mich war mein Vater auch so angezogen, als gäbe es außer uns niemanden. Er trug in Spanien stets eine weite, kurze, lila Hose aus glänzendem Stoff mit Gummizug am Bund und zwei Schlitzchen an den Seiten. Er hatte uns erzählt, dass das eine Unterhose von seiner Armee-Uniform aus dem Krieg sei. Unten guckten seine dünnen Beinchen heraus wie zwei krumme Besenstiele. Bei manchen Bewegungen blitzte auch der Pimmel hervor. Meine Mutter sah das nicht, weil sie stark kurzsichtig war, was auch durch die dicke Brille nur notdürftig ausgeglichen werden konnte. Mir jedenfalls war dieser Kleidungsstil saupeinlich.
Wenn dann das Zeltgerippe stand und mit der Plane überzogen war, verzog sich mein Vater mit den Heften und verlängerten Stiften samt seiner Luftmatratze hinter das Zelt, wo es schattig und unwirtlich war und kam nur zum Essen hervor. Zum Strand ging er kaum. Wenn das doch einmal geschah, dann trug er zu seiner lila Kriegsunterhose braun karierte, geschlossene Filzpatschen mit einer Bummel oben drauf, weil der Sand zu heiß war zum Durchlaufen. Wenn genau vor der Linie, die die Brandung zieht, wenn sie den trockenen Sand berührt, die braun karierten Schuhe fein säuberlich nebeneinander standen, dann wussten wir: Vater ist ins Wasser gegangen.
Einen Bummel über die Strandpromenade hinein in die Altstadt mit ihren engen Gässchen und der Kirche unternahmen wir fallweise, wenn die Lebensmittelvorräte knapp wurden. Mein Vater ging voran, die Aktentasche, ohne die er nirgends hinging, an der gestreckten Hand, meine Schwester und ich hinterher, als Schlusslicht meine sehbehinderte Mutter mit leidender Miene. Den Gang meines Vaters habe ich noch lebhaft vor Augen. Er ging nicht wie andere Leute, einen Fuß vor den anderen setzend, sondern er warf zwei schlabbernde Hosenbeine nach außen, was den übrigen Körper in rhythmische Bewegung versetzte. Manchmal blieb er ruckartig stehen, knallte die Aktentasche samt Thermosflasche und silberner Blechdose auf den Boden, wechselte umständlich die Tragehand und die Hosenbeine machten sich wieder auf den Weg.
Bei den kleinen Geschäften in der Stadt war dann meine Mutter an vorderster Front: "Un kilo de patatas, ocho panecillos y diez huevos, ...". Schließlich hatte sie zu Hause bereits mehrere Fernkurse - damals noch per Tonband - in Spanisch belegt. Mir erschien das damals recht exotisch, da ich meine Kontakte in Spanien mühelos auf deutsch knüpfte.
"Ja, Kartoffeln, Brötchen und zehn Eier, bitteschön Senora!", erwiderte der Händler freundlich. Mein Vater zahlte und warf einen Blick auf seine Uhr. Dabei ließ er ruckartig den Arm nach vorne schnellen wie ein Boxer beim Schlag. Der Ärmel flutschte nach oben und er stellte die Uhrzeit fest, meistens genau nach halben Minuten. "Nu, ich globe, wir müssen weiter."
Spät abends schlich sich oft spanische Musik aus einer nahe gelegenen Bar in unser Zelt und streute mir spannende Unruhe ins Herz. Einmal konnte ich meinen Vater erweichen, mit mir ins Algusto zum Tanzen zu gehen. Ich holte mein Minikleid hervor, das ich für solche Zwecke mitgenommen hatte. Es war hellblau geblümt und aus Papier, ähnlich einer sehr dicken Küchenrolle. So etwas konnte man damals über ein BRAVO-Heft bestellen. Ich hatte es nur in meiner Größe ausschneiden und an den "Nähten" zusammenkleben müssen. Ich malte meinen Mund mit hellrosa Lippenstift aus und fand mich toll. Ich war sehr aufgeregt.
Als wir bei der riesigen Freiluftbühne ankamen, hielt sich mein Vater die Hände an die Ohren: "Bei der Lautstärke - Nee!". Zum Glück steuerte gleich ein braun gebrannter junger Spanier mit blendend weißen Zähnen auf mich zu und tauchte mit mir im schummrigen Trubel der dröhnenden Tanzfläche unter. Ein Blick in Bernardos schwarze Augen und ich schwebte im spanischen Himmel. Als ich gute zwei Stunden später meinen Vater mit einem leeren Limonadenglas in der Hand am Rand der Tanzfläche nach mir suchend stehen sah, stahl sich leise ein Gefühl von Liebe und Geborgenheit in meine Brust. Ich rannte ihm entgegen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Nu, ich globe, wir müssen zurück.", sagte er mit Blick auf die Uhr.
Den glutäugigen Bernardo habe ich nicht wieder getroffen, aber ich habe später einen feschen Steirer mit blitzenden dunkelbraunen Augen geheiratet, der immer noch an meiner Seite weilt.

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