Der geraubte Tod

Von: Archie Wex | 10. Dezember 2023, 15:42

Und dabei wollte er immer in den Stiefeln sterben – aufrecht, selbstbewusst, schnell.
Und jetzt ein entwürdigter, hilfloser Mensch. Ein hirnloser Leib.
Er, der Herr Direktor in Windeln, gewickelt, gewaschen, gesalbt, gewendet, gelagert, gefüttert.
– Dabei hatte er das Leben nach dem Unfall schon kaum ertragen. Wirbel- und Beckenbruch, das Pflegeheim war damals der einzige Ausweg: „Wäre ich nur beim Sturz über die Stiege gestorben“, sein Vorwurf an das Schicksal. Nicht den Tod, solch ein Leben hatte er immer gefürchtet. Er könne seine Abhängigkeit, seinen Autonomieverlust nicht ertragen.
Das „Höre ich zum ersten Mal“, sagst du?
Ja, hast du nie mit ihm darüber gesprochen? Nein, für dich waren ein flüchtiges Küsschen, ein Streicheln der Wangen, die frischen Blumen am Tisch und dein „gut schaust aus“, und „vergiss nicht zu lüften´, die Luft ist etwas stickig“, Beitrag genug zu seinen Wohlbefinden. Und dann wieder „Küsschen und Tschüss“.
Das Sterbeverfügungsgesetz, darauf hatte er zuletzt seine Hoffnung gesetzt. Wir haben mehrmals darüber gesprochen. Aber: Laut Seelsorger müsse er sein Los als Gottes Willen ertragen, - soweit der Trost der Kirche. Schließlich könne er im Rollstuhl ja gut am sozialen Leben im Heim teilnehmen.
Auch die Schmerzen hätte man medikamentös im Griff; eine Lähmung allein sei kein Grund zum assistierten Suizid, so die Argumente seines Arztes.
Wie viele Nächte muss er wohl schlaflos verbracht haben, bis er die Handvoll Schlaftabletten zusammengespart hatte, die er dann letzte Woche schluckte. Die hätten genügt, wäre nicht zufällig die Nachtschwester ins Zimmer gekommen. – Hat dann in Panik Alarm geschlagen. Notarzt, Reanimation, Klinik. Dort hätten sie ihn herz-kreislauf-mäßig wieder hergebracht, sagten sie und schickten ihn nach drei Tagen zurück ins Heim.
Hirnloser, starrer Blick, schluckt, wenn er den breiigen Löffel am Mund verspürt. Wie ein Vogel, dem die Mutter das Futter in den Schnabel stopft. Sonst keine Reaktion.
Nein, schriftliche Patientenverfügung hatte er keine errichtet. Hatte geglaubt, dass es reicht, wenn er es oft genug sagt, dass er so nicht leben wolle und dann aus freiem Willen, bei vollem Bewusstsein die Tabletten schluckt. – Das zähle nicht, hatten Heimleitung und Notarzt gemeint. - Außerdem war es ein Notfall, da gilt es zu handeln, nicht zu fragen. - Also Reanimation nach Schema F. - Ohne Rücksicht auf einen mutmaßlichen Willen des Patienten.
A! Du musst schon wieder? Natürlich, die Parkzeit, Musikunterricht der Kleinen, Reitstunden der Tochter. Na, dann bis nächste Woche. - Ja, ja, um Frischluft und Blumen kümmere ich mich.

Übersicht:
Track 5’ - Höre ich zum ersten Mal