Das Brautlied
Von: Mart Schreiber | 6. Jänner 2022, 13:21
Das Brautlied
Männliche Stimme:
Früher hast meistens du geredet. Mir hat das nichts ausgemacht. Nur wenn du mir mit Vorwürfen gekommen bist, dass ich keine Antwort gebe, und nicht damit aufgehört hast, bist du mir auf die Nerven gegangen. Aber nicht lange. Ich habe mir dann angewöhnt, ab und an „Ach so“ zu sagen oder „Wirklich?“ oder „Interessant“. Heute weiß ich nicht mehr, warum ich dir oft nur mit einem Ohr zugehört habe. Heute würde ich an deinen Lippen hängen, wenn du mit mir sprichst.
Später, als wir schon alt geworden waren und du oft im Krankenhaus gelegen bist, habe ich dir Geschichten erzählt. Meist frei erfundene. Naja, nicht ganz. Ich habe Ereignisse aus dem Alltag aufgebauscht und weitergesponnen. Die Nachbarin hatte einen Streit mit ihrem Sohn. Du weißt, die Wände waren dünn. Nachkriegsbau, Fünfzigerjahre. Nach einiger Zeit hatten sich die Steithanseln wieder beruhigt. Dir habe ich erzählt, dass ich die Polizei rufen musste, weil die Nachbarin geschrien hätte, ihr eigener Sohn würde sie umbringen. Der Sohn wäre verhaftet worden und seither nicht mehr aufgetaucht.
Erinnerst du dich noch, als ich meine steirische Harmonika ins Spital mitgenommen habe und dein Lieblingslied zu spielen begann? Die Sonne neigt sich.
Spielt einige Takte auf der Harmonika
Weißt du noch? Nach einigen Takten ist die ganze Station zusammengelaufen, ich durfte aber noch zu Ende spielen. Und dir sind Tränen über die Wangen geronnen. Du liebst die Musik, das weiß ich. Und das Tanzen. Oh Gott, du hattest mich zum Tanzkurs angemeldet, ohne mir etwas zu sagen. Ich war ziemlich sauer deswegen. Doch du hattest mich mit deinem unwiderstehlichen breiten Lächeln angesehen und gesagt: Probieren wir’s aus. Probieren wir’s einfach aus. Und wenn es dir gar nicht passt, dann lassen wir es wieder. Probieren geht über Studieren. Also fass dir ein Herz. Es ist ja nichts dabei.
Das Tanzen ist uns geblieben. Wenn wir mit weit über sechzig im Tanzsaal erschienen sind, haben uns manche verächtlich von der Seite angesehen und sich vielleicht gedacht, die Alten haben sich verirrt. Was wollen die hier? Doch dann der Cha-Cha-Cha. Gestaunt haben sie, weil wir es draufhatten. Einmal haben wir sogar Applaus bekommen, für den Wiener Walzer, den wir bis zum Ende getanzt haben. Die anderen Paare hatten längst aufgegeben, nur wir sind bis zum Schluss über die Tanzfläche geschwebt.
Und jetzt? Du tanzt nicht mehr. Du lässt mich reden. Gibst keine Antwort. Nicht einmal „Interessant“ sagst du. Schau nur, ich habe die Steirische mit. Magst du das Brautlied hören? Unser Brautlied. Die Sonne neigt sich. Das passt, es wird ohnehin langsam dämmrig. Du darfst aber nicht weinen, wenn die Friedhofsbesucher zusammenlaufen. Ich schätze, sie werden sich aufregen und schimpfen, dass ich die Friedhofsruhe störe. Probieren wir’s aus.
Spielt das Ende des Brautlieds auf der Harmonika
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Mitwirkende: Martin Votzi
Projektmanager und Projektcoach (trotz Pension :-) )
in den letzten 5 Jahren mehrere Bücher veröffentlicht (siehe Website)
bereits mit 17 Jahren einen Hörspieltext mit dem Titel "Die Bombe" bei Ö1 abgegeben, der vermutlich so schlecht war, dass er nie wieder etwas gehört hat. :-)
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Übersicht:
Track 5' - Probieren wir's aus