1967: Sie nannten uns Schnittlauchfresser

Von: phili | 3. April 2017, 21:57

1967 war ich mit dem Maler und Free-Jazz-Musiker Barabbas verheiratet. Wir lebten in Reichenau/Rax in einer Villa meiner Schwiegermutter, Das offene Haus war ein beliebter Treff für die aufstrebende Künstleravantgarde.

Sowie ich mein Erinnerungsarchiv durchforste, flimmern Momentaufnahmen meines bisherigen Lebens über den inneren Bildschirm. Das läuft ab wie ein Film. Ich kann wählen, was auf der Gedächtnisbühne Revue passieren soll. Die Wahl fällt auf das Jahr 1967. Damals lebte ich mit Barabbas und unseren gemeinsamen Kindern in Reichenau an der Rax. Wir wohnten in einer repräsentativen Jahrhundertwende-Villa, die meiner Schwiegermutter gehörte. Ein geräumiges Haus mit fünf Wohnungen. In den 1960er Jahren wurde Barabbas, der Schöpfer farbenprächtiger Bilderwelten, als Senkrechtstarter gehandelt. Unkonventionell als Maler und ebenso kompromisslos in der Musik: Das war Claus Mayrhofer, der 1958 im Alter von 15 Jahren das Enfant terrible der Wiener Kunstszene Padhi Frieberger traf, daraufhin beschloss, die Schule abzubrechen, um Künstler zu sein. Fortan nannte er sich Barabbas.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde die Reichenauer Villa zum beliebten Treff einer aufstrebenden Künstleravantgarde, zumal nach der Schließung der legendären Wiener Galerie „Zum roten Apfel“ (in Wien 3, Landstraßer Hauptstraße 74) bot das offene Haus in Reichenau einen Ort der Diskussion und gemeinsamen Arbeit. Es kamen Ernst Fuchs, Jürgen Leskowa, Walter Malli, Richard Pechoc, Franz Ringel, Heinz Stangl, Othmar Zechyr, Robert Zeppel-Sperl und der Fotograf Gerhard Trumler. Kein Wunder, schließlich übte Reichenau an der Rax seit der Romantik große Anziehungskraft auf Künstler aus. Die Holzriesen vom Thalhof in die Eng hinein inspirierten ebenso wie die Geröllhalden und bizarren Felsformationen im Höllental.

Othmar Zechyr, der anfänglich nur fallweise zu Besuch gekommen war, lebte von 1967 an zwei Jahre mit seiner Frau und neugeborenen Tochter bei uns. Wenngleich in unseren Familien Schmalhans Küchenmeister herrschte, beeinträchtigte das nicht im geringsten die Kreativität und Schaffensfreude der jungen Künstler. Es ist sogar die Gründung einer Künstlerkolonie geplant gewesen. Romantik und revolutionäre Utopien gehörten damals noch zum Programm.

Von meinem Leben in Wien war ich zwischenmenschliche Anonymität gewohnt. Im Gegensatz dazu zeigen Menschen im ländlichen Raum Interesse aneinander. Das war auch in Reichenau der Fall. Dort wusste jeder von jedem alles, oder zumindest fast alles. Natürlich redete man über uns. Schließlich mischten wir das Einerlei des Reichenauer Alltags ordentlich auf. Für die Einheimischen waren wir und unsere Künstlerfreunde, die gelegentlich zu Besuch kamen, Exoten, die Aufsehen erregten. Allein das Äußere von Barabbas, sein Bart, die farbenfrohen Gewänder, die er fallweise trug, sorgte für Gesprächsstoff. Und dann die Musik, die von früh bis spät bei uns gespielt wurde. In der schönen Jahreszeit, wenn wir die Fenster geöffnet hatten, bekamen die Reichenauer Jazz zu hören, der damals für ihre Ohren zumeist fremdartig klang. Noch fremdartiger kam an, wenn Barabbas - er war auch Mitglied der österreichischen Free-Jazz-Formation „Masters of Unorthodox Jazz - seine Free-Jazz-Soli am Saxophon los lies. Das mag sich für manch einen angehört haben, als röhrte ein wildgewordener Stier. Musikalischer Gruselwahnsinn in Reinkultur. Schon allein das roch nach Skandal.

Wovon wir lebten, wird sich der eine oder andere gefragt haben. Schließlich gingen wir keiner geregelten beruflichen Tätigkeit nach, und man sah mich fast nie bei Frau Maceczek Lebensmittel einkauften. Auch der Metzger machte kein Geschäft mit uns. Als sich herumsprach, dass wir kein Fleisch aßen, sondern uns hauptsächlich von Getreidekörnern, die wir direkt vom Bauern bezogen, ernährten, dürfte das Maß ungläubigen Staunens voll gewesen sein. Kein Fleisch zu essen, das brachte der Durchschnittsbürger der Nachkriegszeit unweigerlich mit Armut oder Krankheit in Verbindung. Kein vernünftiger Mensch nahm einen derartigen Verzicht freiwillig auf sich, jetzt, wo es endlich wieder zu essen gab, was das Herz begehrte. Wir tanzten also auch dahingehend aus der Reihe. Die Mieter der Reichenauer Villa wussten zu berichten, dass wir Fleischgenuss aus ethischen Gründen ablehnten, was ein weiterer Grund war, über uns den Kopf zu schütteln. Nun ist es eine natürliche Folge, dass Menschen versuchen, Seltsamkeiten zu benennen. Also bedachten uns die Reichenauer mit einem Spitznamen. Da es ihnen nicht entgangen war, dass ich in Blumentöpfen Schnittlauch zog, nannten sie uns kurz und bündig „die Schnittlauchfresser“, was ich allerdings erst erfahren habe, als ich längst nicht mehr in Reichenau lebte.

1967 war für uns ein ereignisreiches Jahr. Gleich zu Beginn konzertierten die „Masters of Unorthodox Jazz“ im Internationalen Kulturzentrum (Wien 1, Annagasse 20). Niemand geringerer als Kurt Kren, einer der prominentesten Vertreter des österreichischen Avantgarde-Films, machte bei diesem Konzert Aufnahmen und der junge Xaver Schwarzenberger fotografierte. Der Bekanntheitsgrad des Künstlers Barabbas stieg. In diesem Jahr hatte er seine ersten Ausstellungen in Deutschland – im K.O. Braun-Museum in Ludwigshafen, kurz darauf in der Galerie Krokodil in Hamburg und in der Galerie Mathias in Köln, wo er seiner farbenfrohen Malerei wegen von der Presse als „Farbgeometer“ gehandelt wurde. Endlich gab es Einnahmen aus Bildverkäufen, die jedoch, wie das bei Künstlern zumeist üblich ist, sofort wieder in die Kunst investiert wurden. Malmaterial wurde angeschafft, ein neues Saxophon und Geld für die Produktion einer Schallplatte zurückgelegt, die zwei Jahre später auch erschien. „Overground“ (Barabbas Records, Reichenau/Rax) hieß Österreichs erste Free-Jazz-LP. Und sie war tatsächlich Barabbas‘ Produkt. Er mietete das Tonstudio und trug alle anfallenden Kosten.

Mein Erinnerungsfilm läuft und läuft. Unmöglich, mit dem Schreiben nachzukommen. Ich gebe auf. Nur eine Sache sei noch vermerkt. Was auch alles geschehen ist, das für mich wichtigste Ereignis des Jahres 1967 war die Geburt meiner dritten Tochter. So ist es. Und jetzt schalte ich den inneren Bildschirm aus.

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