Rassistisch? Ich?

Von: pinta | 15. Juli 2017, 00:47

1967 arbeitete ich als Krankenschwester mit an der Entwicklung kleiner Gesundheitszentren in kolumbianischen Armenvierteln. Die einfache Frage eines Flüchtlings aus Haiti veränderte meine Weltsicht.

Aus meinem südamerikanischen Tagebuch:
"20. September 1967
Schrill kreischend begleiten mich die Klageweiber zum Dorfplatz. An meiner Hand der fünfjährige Sohn der soeben Verstorbenen. Esperanza, die Hoffnung wurde gerade 19 Jahre alt, Prostituierte seit dem 12. Lebensjahr, Mutter dreier noch lebender Kinder.
Diese letzte Nacht habe ich bei Esperanza verbracht. Nun bin ich todmüde und möchte nur noch in der Hängematte verschwinden. Es ist schon heiß, obwohl der Tag erst begonnen hat.
Je näher wir dem Dorfplatz kommen, desto lauter wird ein anderes Gekreische. Da brüllen mindestens 200 Kinder aus Leibeskräften eine Hymne zum Tag der Befreiung. Von klein bis groß in Reih und Glied, hellbraun bis schwarz die Hautfarben, weiß bis staubgrau die Schuluniformen.
Die Frauen rund um mich sind verstummt. Also kann ich sie fragen, von was für einer Befreiung die Kinder singen. Sie schauen mich verständnislos an. Befreiung?
"Ja, bitte, sagt mir, wovon befreit? Von der Sklaverei, vom Elend?"
Plötzlich fällt ein Schatten auf mich. Ein baumlanger, junger Mann steht vor mir und antwortet anstatt der Frauen: "Von den Steuern an die spanische Krone. Sie wissen sicher- Simon Bolivar und so weiter.."
Erstaunt blicke ich zu ihm hoch. Ihn habe ich noch nie gesehen. Er wäre mir aufgefallen. Schwarz wie die Nacht und schön. Beeindruckend seine tiefe Stimme. Sein Spanisch hat einen französischen Akzent.
"Woher kommen sie?" wollte ich gerade fragen, als er eine leichte Verbeugung andeutet und sagt: "Abelardo de Haiti - a su servicio!"
"Abelardo? Zu meinen Diensten? Ja, wo haben sie denn ihre Heloise?" frage ich lachend.
Was sonst könnte einem einfallen beim Namen Abelardo als die tragische Liebesgeschichte des gelehrten Mönchs und seiner schönen Schülerin?
Natürlich rechne ich nicht damit, dass er die Geschichte kennt. Woher auch? Aber er antwortet in reinstem Französisch, dass er zwar kein Mönch sei, aber sie vielleicht gerade kennenlerne und fragt gleich darauf: "Sind sie auf Austausch hier?"
"Auf Austausch? Wie? Sie meinen.." In meinem Hirn rattert etwas. Ich wechsle lieber ins Spanische, vielleicht habe ich ihn ja missverstanden.
"Si, si, intercambio" antwortet er ernsthaft und ich starre ihn völlig entgeistert an.
Das hieße also: Jemand aus diesem Armenviertel, vorwiegend bevölkert von Zuhältern, Prostituierten, Dealern und anderen Überlebenskünstlern, in dem ich seit einem halben Jahr mit dem Aufbau eines Gesundheitszentrums beschäftigt bin, wäre im Austausch für mich in meiner Heimatgemeinde in Österreich, um dort Entwicklungshilfe zu leisten! Blankes Entsetzen breitet sich aus in mir.
Schlagartig wird mir meine Überheblichkeit bewusst. Zudem frage ich mich im selben Augenblick, ob ich gefühlsmäßig anders reagieren würde, stellte mir ein weißer Mann dieselbe Frage.
Meine Antwort ent-täuscht mich: Ich - rassistisch!
Ich hatte mir tatsächlich eingebildet, frei zu sein von Vorurteilen, dem anderen immer auf Augenhöhe zu begegnen. Nun schäme ich mich, das Wort Entwicklungshilfe in den Mund zu nehmen.
Als ich wieder zu Abelardo aufschauen will, wird mir schwindlig. Schnell setze ich mich auf die hohe Türschwelle einer Bar. Abelardo verschwindet aus meinem Blickfeld und hält mir nach ein paar Minuten ein eiskaltes Getränk an die Wange, setzt sich neben mich und beginnt zu erzählen: von seiner Flucht aus Haiti nachdem sein Vater, Lehrer für französische Literatur, von den Tontons Macoutes abgeholt worden war; von seinem Traum, in Paris zu studieren..."
Dies war der Anfang einer wunderbaren Freundschaft, aber noch lange nicht das Ende all meiner Vorurteile.

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