Der Tag, an dem der `liebe´ Gott starb
Von: Ronald Zrzavy | 9. Jänner 2024, 08:51
Text: Ronald Zrzavy
Sprecher: Ronald Zrzavy
Musik: Stephan Gleixner
Ich möchte nun von jenem traurigen Tag berichten, an dem der `liebe´ Gott für mich gestorben war. Vielleicht ist es manchen von Ihnen auch schon einmal so ergangen, andere werden sich denken: Kann ja gar nicht sein, kann nie passieren, das höre ich zum ersten Mal –
Es geschah an einem Montag und ich stand im Foyer jener Tintenburg, in der ich im zehnten Stock meiner ungeliebten Arbeit nachging. Und das meine ich genau so, wie ich es sage. Weder eilte ich noch lief ich. Ich ging, ich schlenderte ihr eher nach – und das sehr gemächlich.
Das Einzige, was mich seit in etwa vier Wochen motivierte, war die Liftfahrt. Denn damals war im zweiten Stock, dort befand sich nämlich die Cafeteria, meine Traumfrau zugestiegen, mit dampfendem Käffchen und Plunder in der Hand, und hatte mich fünf Etagen lang begleitet. Sie hatte mir freundlich zugenickt, mich angelächelt, mit einem Lächeln, hach, ich kann es gar nicht wirklich beschreiben. – Plötzlich war die Sonne in meinem Leben aufgegangen. Wir hatten uns in der Sekunde unsterblich ineinander verliebt. Also, von mir weiß ich es und von ihr hoffte ich es.
Und tatsächlich, wie durch Bestimmung, fuhren wir daraufhin oft miteinander im Lift. Immer um die gleiche Zeit. 8.30. Das war unsere Zeit. Die Zeit ohne Worte, nur des Lächelns und liebevollen Empfindens.
Auch an diesem Morgen stand ich wieder, ein fröhliches Liedchen auf den Lippen, im Foyer und wartete auf den Aufzug. Ich ahnte, dass dies der Tag sein würde, an dem ich sie zum ersten Mal nicht nur verliebt anlächeln, sondern auch ansprechen wollte, um endlich unsere gemeinsame Zukunft zu besprechen. Ganz cool, mit schön Schauen und allem Drum und Dran.
Dann öffnete sich die Fahrstuhltür und ich erblickte einen Mann in Anzug. Dieser starrte mich mit schreckgeweiteten Augen und hochrotem Gesicht an, um sich dann mit gesenktem Kopf und eine Entschuldigung stammelnd, gehetzt wie ein flüchtendes Tier, an mir vorbeizudrängen, während ich in das Innere der Kabine trat. Ich dachte mir nicht viel dabei, drückte die Taste 10 und atmete ein … Mir zog es förmlich den Boden unter den Füßen weg, ein Schwindelanfall nach dem anderen überkam mich, die Luftröhre war verätzt, Lunge und Magen verkrampften sich und im Spiegel starrte ich mit geröteten, tränenden Augen in mein leichenblasses, verzerrtes Gesicht. Mit letzter Kraft betätigte ich den Türöffner, um mich mit einem Hechtsprung ins rettende Foyer zu stürzen, doch … es war zu spät. Die Kabine setzte sich gnaden- und kompromisslos in Bewegung, hielt mich unerbittlich gefangen in der Jauchegrube der Hölle … eingenebelt in ein Odeur aus von Aasfressern halbverdauten, aber verdorbenen Eiern, Schwefel und Buttersäure, gewürzt mit fauligen Zwiebeln und verwesten Bohnen, bei dem selbst die hungrigste Hyäne, ungelenk, weil benommen, taumelnd und stolpernd das Weite gesucht hätte. Ha, und jämmerlich gewinselt hätte sie auch!
`Erster Stock´ säuselte die Stimme aus den Aufzugslautsprechern. `Zweiter Stock´ - „oh nein, bitte nicht, lieber Gott“ - flehte ich inniglichst – „lass mich bitte nicht im Stich, mach, dass niemand zusteigt, vor allem nicht `sie´“ – aber er hört ja nicht. Nie hört er mich, der Verräter.
Denn natürlich hielt der Lift im zweiten Stock, die Türe ging auf und SIE stand vor mir. Mit einem freudigen Lächeln des Wiedererkennens in ihrem engelsgleichen Gesicht, kurz bevor es sich angewidert fratzenhaft verzerrte, als sie durch die geballte Wucht des explosionsartig ins Freie drängenden olfaktorischen Potpourries, welchem ich noch die persönliche Duftnote meines Erbrochenen zugefügt hatte, förmlich umgeweht wurde, sich im gleichen Moment ganz offensichtlich blitzartig entliebte - und ohnmächtig zu Boden sank.
Das war´s. Jetzt ist es endgültig vorbei. Es gibt keinen Gott, und wenn doch, dann keinen lieben. Denn, wie könnte ein `lieber´ Gott zulassen, dass es, nicht nur, aber auch im vergangenen Jahr nicht nur Tod und Verderben bringende Naturkatastrophen, sondern auch unbeschreibliche Gemetzel, mit unzähligen Toten und grausam entstellten, verstümmelten Verletzten, brutalsten Vergewaltigungen, entführte, missbrauchte Kinder – traumatisiert bis ans Ende ihrer Tage - und zahllose Vertriebene gegeben hat und – vor allem ich, heimtückisch, durch einen noch dazu fremden Darmwind einer beinahe kitschig glücklichen Zukunft mit meiner Angebeteten beraubt werde? – So ein Gott kann doch nicht lieb sein, oder?
Einfach zum Nachdenken.
Übersicht:
Track 5’ - Höre ich zum ersten Mal