normal

Von: Ruth Groll | 30. Dezember 2023, 19:36

Stehen vier nebeneinander, beiläufig. Jeder in Gedanken versunken. Sie sehen aneinander vorbei, manchmal drehen sie den Kopf etwas, dann streift ihr Blick einen der anderen. Schweigen. Sie scheinen sehr geduldig beim Warten. Mitunter gelangweilt.
"Es dauert halt noch" sagt der eine, eher heller Typ.
"Eh wie immer", die andere
"Hm"
"Wer heute? ER oder SIE" fragt der vierte.
Schweigen. Da geht die eine ein paar Schritte aus dem Kreis, sieht nach, kehrt wieder zurück. "Keine Ahnung".
"Wir müssen uns vorbereiten"- der Dunkle scheint einen neuen Gedanken zu fassen. Die anderen schenken ihm noch keinen Blick. "Es könnte etwas Besonderes sein". Er erntet den Hauch einer Aufmerksamkeit - sie heben ihre Köpfe um eine Nuance und schauen ihn an, fragend. Die Kleine ist ungeduldig. "Etwas, was sie sonst nie bringen?" "Vielleicht, sagt der Dunkle. "Sicher nichts Besonderes"- die Brünette ist wie immer kritisch - "zuerst tun sie so, als hätten sie die urtolle Sache und dann stellt sich heraus: Eh nur das normale"
"Was ist schon normal?" fragt der Gelassene in die Runde. Die anderen verdrehen die Augen. Das hätte er sich sparen können. Es wird nichts bringen, darüber zu philosophieren, es wird die Zeit deswegen nicht schneller vergehen.
"Normal ist das, was man ganz gern hat, aber vergessen hat, dass man es ganz gern hat, weil man sich zu sehr daran gewöhnt hat"- der Dunkle scheint nicht eine Sekunde mit der Beteiligung der andern am Gespräch gerechnet zu haben, denn er gibt den anderen die Antwort auch gleich selbst. "Heißt", fährt er fort, " wenn man das normale weglässt, zumindest für eine Zeit, dann stellt man wieder fest, wie besonders es ist, wenn man es später wieder einmal bekommt".
"Aha" sagt der Gelassene. "Hör ich zum ersten Mal. Eh gut". Nur keine Diskussionen jetzt, denkt er, besser gleich das Feuer im Keim ersticken. Es bringt nichts, jetzt einen Streit zu entfachen.
Die anderen scheinen ohnehin wenig gestört bzw. beeindruckt zu sein von der Sprachkompetenz des Dunklen.
"Normal ist ER. Er bringt uns immer was und immer das gleiche", wirft dann doch die Kleine ein. Irgendetwas von dem Gedankenspiel des Dunklen hat doch etwas ausgelöst in ihren Hirnwindungen. "ER ist das normale. SIE ist nicht normal". "Was soll das heißen, SIE ist nicht normal!"- die Brünette fährt augenblicklich hoch. „Jetzt fängts an“, denkt der Gelassene, „scheisse, jetzt zettelt sie doch eine Fetzerei an. Immer die Kleine.“
"Sie ist eben besonders“, fährt die Brünette fort, „was für ein Glück, stell dir vor, die wär auch normal, wir hätten überhaupt keine Abwechslung hier!"
"Entschuldige, warum Abwechslung?" Die Kleine tut auf einmal auf erwachsen. "Wir sind doch nur ... Sch.." "Stimmt", fällt ihr die Brünette ins Wort, "und deswegen brauchen wir das Besondere genauso wie das Normale!"
"Äh, Kolleg:innen", der Dunkle versucht abzulenken, "ich glaub, es kommt jemand"- er dreht sich weg und geht ein paar Schritte nach vorne. Der Herdentrieb wird hoffentlich funktionieren, denkt er, nur jetzt keine gruppeninternen Aggressionen.
Der Herdentrieb funktioniert einwandfrei. Alle staksen hinüber. Tatsächlich kommt jemand die Stiegen herauf. Es sind zwei. Sie haben was in den Händen.
Da drin raschelt es.
"Yeah", denkt der Gelassene. "ER kommt, alles normal.“
"Fein", denkt der Dunkle, "er hat was mit."
"Yuppie", denkt die Kleine, "es ist sicher gut.“
"Na bitte", denkt die Brünette, "SIE ist auch da, das heißt heute ist was Besonderes!"
"Hey", rufen die zwei auf den Stiegen, "na, was ist los bei euch? Haben was mitgebracht! Was Besonderes! Getrocknete Ulmenblätter, it's Chips-Time!"
Na mäht doch.

Übersicht:
Track 5’ - Höre ich zum ersten Mal