Erinnerungen der Argentiniern Gladys Ambort
Wenn die anderen verschwinden sind wir nichts
Ab 1974, dem Beginn der zweiten peronistischen Epoche, war Argentinien vom Terror geprägt. Tausende Menschen verschwanden, andere wurden eingesperrt. Eine davon war die damals erst 17-jährige Schülerin Gladys Ambort, die aufgrund ihres politischen Engagements zwischen 1975 und 1978 inhaftiert und mit knapp 21 Jahren ins französische Exil geschickt wurde.
8. April 2017, 21:58
Gladys Amborts Fall war einer der letzten, der die Regimekritik in Argentinien auf dem Rechtsweg behandelte: Als ihr eigener Anwalt einige Zeit nach ihrer Festnahme in den Folterkellern des Regimes verschwand, regierte bereits kriminelle Willkür bei der Verfolgung von Regimegegnern. Es galt ein Sonderrecht, nach dem der Staat ohne Begründung als gefährlich eingestufte Personen verhaften konnte.
Eine kleine Bemerkung führt ins Gefängnis
Gladys Ambort wird in Cordoba geboren, schon mit 15 engagiert sie sich politisch. Als nach dem Putsch in Chile eine Politisierungswelle die argentinische Jugend erfasst, tritt sie in die Partei Vanguardia Comunista ein. Sie glaubt an die verändernde Kraft der anti-imperialistischen Volksfront. Um der Vormundschaft der Eltern zu entkommen, heiratet sie mit nur 17 Jahren - ein Schritt mit weitreichenden Folgen, denn die Rechtsmündigkeit aufgrund der frühen Heirat macht die spätere Verhaftung der Minderjährigen juristisch erst möglich.
Es ist dann eine beiläufige Bemerkung über den Vietnamkrieg, die die 17-Jährige für drei Jahre hinter Gitter bringt und sie später ins Pariser Exil zwingt: Gladys sagt im Schulunterricht, dass in Vietnam die kleinste Armee der Erde die größte Armee besiegt habe, weil sie für Freiheit und für Ideale gekämpft hatte. Der Lehrerin missfällt diese Interpretation, sie meldet Gladys bei der Polizei. Wenige Tage später wird sie festgenommen und inhaftiert. Man wirft ihr vor, kommunistische und trotzkistische Literatur zu besitzen und zu verteilen.
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Als Regimegegnerin und Angehörige einer linken Partei sowie Aktivistin an der Sekundarschule wurde ich als Gefahr für die Staatssicherheit angesehen. "Sie ist eine Löwin", hatte der Richter über mich geurteilt.
Jede ist sich selbst am nächsten
Gladys kommt in Einzelhaft, dann in ein Frauengefängnis. Dort wird sie rasch politisch desillusioniert: Angesichts der Repression in der Haft sind sich viele der inhaftierten Genossinnen selbst am nächsten - es herrschen Denunziation, Ausgrenzung und eine hierarchische Ordnung unter den Frauen. Darunter leidet die junge Marxistin zunächst mehr als unter Isolation und Schikanen im Gefängnis.
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Unsere Pläne für eine bessere Gesellschaft schienen plötzlich zu individualistischem und rachedurstigem Gehabe zusammenzuschrumpfen. Als ich eine Verlegung nach Cordoba gewünscht hatte, war ich sicherlich davon ausgegangen, dort auf Vertreter des neuen Menschen zu treffen, dem idealen Menschenbild, von dem wir Kämpfer für eine alternative Gesellschaft immerzu sprachen. In der Realität traf ich auf Frauen wie alle anderen - schlaftrunken am Morgen, müde und schlecht gelaunt, gedrängt von der Disziplin ihrer Gruppe. Ich war erstaunt zu erleben, dass Machtkämpfe nicht an der Schwelle des Blocks haltmachten.
Vergessen wer man ist
Mehrmals wird Gladys in andere Gefängnisse verlegt, ein stetiger Kontakt zu ihrer Familie ist nur schwer möglich, aber zumindest weiß sie, dass man draußen für ihre Freilassung kämpft. Im Gefängnis sind Hinrichtungen, Folter, sexueller Missbrauch und Erniedrigungen an der Tagesordnung, während draußen die Militärjunta die Macht übernimmt.
In der Zelle versucht Gladys dem Sinnlosen Sinn zu geben, indem sie zwanghaft die Schritte im Gefängnis-Innenhof zählt, die Gitterstäbe am Fenster, die Fliesen am Boden. Am meisten leidet sie unter der Einsamkeit, dem räumlichen Getrenntsein von ihrer Familie und dem emotionalen Getrenntsein von den Genossinnen im Gefängnis.
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Meine Isolation machte mir bewusst, dass ich alles den anderen zu verdanken hatte, weil ich ohne sie nichts mehr war. Es ist nur normal zu glauben, dass wir alles, was wir sind, aus uns selbst heraus sind und nicht nur bestehen, wie es uns von unserem sozialen Umfeld oder der Natur gegeben wurde. Wir erfinden unsere eigene Geschichte und erzählen sie, wie sie uns am besten genehm ist, wir stellen ein bestimmtes Bild von uns selbst zur Schau, wir rezitieren eine Rolle. Aber wenn die, denen wir diese Geschichte erzählen, verschwinden, ergibt auch die Geschichte keinen Sinn mehr. Ohne die Präsenz derjenigen, mit denen ich meine Geschichte teilte, und mit denen ich Tag für Tag meinem Leben einen Sinn verlieh, fühlte ich mich unfähig, mich gegen die anderen zu verteidigen. Ich verlor mich selbst und wusste nicht mehr, wer ich war.
Entlassung ins Exil
Als die Weltöffentlichkeit anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 1978 nach Argentinien blickt, gibt sich das Videla-Regime nach außen hin demokratisch und freundlich. Ein Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes besucht Gladys im Gefängnis und fragt sie nach den Haftbedingungen, doch sie kann nur weinen; sie kann keine Auskunft mehr geben darüber, wie schlecht es ihr und den anderen geht. Auf Druck von außen räumt man ihr schließlich das Recht ein, zwischen Gefängnis und Exil zu wählen. Gladys entscheidet sich für das Exil und wird am 8. Jänner 1978 nach Paris gebracht.
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Als das Flugzeug abhob, saß ich in der letzten Reihe am Fenster. Das Wasser, das sich an der Decke durch die Klimaanlage kondensiert hatte, tropfte mir auf den Kopf. Währen der Reise tropfte es weiter und durchnässte mich ununterbrochen. Mein Sitznachbar rief nach der Stewardess. Ich hätte das nicht gewagt. Ich fühlte mich immer noch wie im Gefängnis. Ein Erlass hatte mir ermöglicht, freizukommen und ins Ausland zu reisen. Um mein Bewusstsein zu befreien, reichte das nicht.
Es gelingt ihr auch in Frankreich nicht, wieder Fuß zu fassen. Irgendetwas war in den drei Jahren Gefängnis in ihr zerbrochen; sie wird viele Jahre brauchen, um diesen Umstand überhaupt benennen zu können.
Gladys Amborts Beschreibungen aus dem Gefängnis sind nüchtern und fast distanziert - und vielleicht gerade deshalb so eindringlich und bedrückend. Weil sie das Verdrängen von menschlichen Gefühlen angesichts von Folter, Terror und Todesangst widerspiegeln.
Service
Gladys Ambort, "Wenn die anderen verschwinden sind wir nichts", aus dem Französischen übersetzt von Christine Menghini, Laika Verlag
Laika Verlag - Wenn die anderen verschwinden sind wir nichts