Schwellenland auf Dauer

Argentinien

Argentinien feiert heuer das 200-jährige Bestehen als Staat und ist Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Dies bedeutet, dass viel mehr Romane als sonst von argentinischen Autoren in deutscher Übersetzung erscheinen und auch, dass viele Sachbücher über Argentinien auf den Markt kommen. Eines davon stammt vom Soziologen Peter Waldmann.

Argentinien 1973. Der Links-Peronist Héctor Campora hatte gerade die Präsidentschaft der Republik übernommen, trat jedoch schon nach 49 Tagen zurück, um dem aus dem Exil zurückkehrenden Juan Perón Platz zu machen. Der greise Politiker starb jedoch schon wenige Monate nach seinem Wahlsieg; seine Frau Isabelita führte das Land direkt in die Arme der Militärdiktatur.

Die Guerillaverbände waren zu machtvollen Organisationen herangewachsen, die nach Gutdünken Unternehmer und Vertreter des sogenannten Establishments bedrohten und umbrachten. Auf der Gegenseite waren rechtsextreme Todesschwadronen auf den Plan getreten, die sich ihre Opfer unter Gewerkschaftsführern und angeblichen Linkssympathisanten aussuchten.

"Belle Epoque" im 19. Jahrhundert

Der deutsche Soziologe Peter Waldmann befand sich zu dieser Zeit gerade zum zweiten Mal in Argentinien, in jenem Land, das in Zukunft zu einem Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit an der Universität Augsburg werden sollte. Er geht in dem vorliegenden Buch der Frage nach, weshalb Argentinien in 200 Jahren republikanischer Geschichte nie die Schwelle zu einem dauerhaft demokratischen, stabilen Land überschreiten konnte.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erlebte Argentinien einen anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung, der vor allem auf dem Export landwirtschaftlicher Produkte wie Fleisch, Mais und Weizen beruhte. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen lag höher als in der Schweiz oder in Schweden.

Nach der gewaltsamen Verdrängung der indigenen Urbevölkerung waren riesige Landstriche zur Besiedlung und landwirtschaftlichen Nutzung frei geworden. Zwischen 1870 und 1914 kamen rund sechs Millionen Einwanderer ins Land, die meisten aus Italien und Spanien. Diese Zeit ist in das kollektive Gedächtnis der Argentinier als die "Belle Epoque" eingegangen, als die gute alte Zeit.

Erster Militärputsch 1930

Die politischen Entwicklungen im Europa der Zwischenkriegszeit schwappten auch auf Argentinien über, das sich ja immer schon als der europäischste Staat Lateinamerikas fühlte. 1930 kam es zu einem ersten Militärputsch unter dem faschistenfreundlichen General Uruburu. Sein Nachfolger General Justo führte das Militär allerdings wieder mehr aus der Politik heraus, was schließlich 1943 zu einem neuerlichen Militärputsch führte. Nunmehr betrat ein Mann die politische Bühne, der sich zur bedeutendsten politischen Führungspersönlichkeit des Jahrhunderts entwickeln sollte: Juan Domingo Perón.

Perons Wahlsieg vom Februar 1946 stellte einen politischen Erdrutsch dar. In den größeren Städten bildeten die Arbeiterwohnviertel solide Hochburgen seiner Anhängerschaft, auf dem Land, in den weniger entwickelten Regionen, wuchs eine heterogene politische Basis heran.

Perons Wahlsieg stellt für Peter Waldmann den Aufbruch in das so genannte "Neue Argentinien" dar. Doch trotz bester Rahmenbedingungen ging der Boom der Nachkriegsjahre in eine Rezession über. Aufkeimender Opposition begegnete Perón mit wachsender Repression, auch steigerte er den Kult um seine Person bis zur Absurdität. Als es im September 1955 zu einem militärischen Aufstand kam, gab der große selbstherrliche Führer auf und ging – nach einigen Zwischenstufen - ins Exil nach Spanien.

Exportboom nach dem Zweiten Weltkrieg

Damit war nach Peter Waldmanns Ansicht der dynamische Abschnitt der jüngeren Geschichte Argentiniens zu Ende gegangen. Die darauf folgende politische und soziale Krise führte direkt in die Machtübernahme der Militärs. Getragen wurde die Militärdiktatur von abendländischem Sendungsbewusstsein und radikalem Antikommunismus.

Der Autor fragt sich, wann in der jüngeren Geschichte Argentiniens es Möglichkeiten gegeben hätte, einen neuen Entwicklungsweg einzuschlagen. Waldmann ortet als solche historischen Entscheidungspunkte den Zweiten Weltkrieg und die Regierungszeit von Raúl Alfonsín, also die Phase nach dem Ende der Militärdiktatur 1983.

Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit brachten für Argentinien einen Exportboom bei landwirtschaftlichen Produkten – das Land war damit aber auch an die Grenzen seines exportorientierten Wachstumsmodells gestoßen. Doch das von Perón geförderte Projekt einer umfassenden Industrialisierung, eines Wachstums nach innen scheiterte schließlich an der weit verbreiteten Haltung vieler politischer Führer, Eitelkeit, Selbstbezogenheit und die eigene Tasche über das Gemeinwohl zu stellen.

Hoffnungsfunke unter Raúl Alfonsín

Mit dem Rückzug der brutalen, wirtschaftlich unfähigen und korrupten Militärs in die Kasernen war 1983 der Augenblick einer Wiederbesinnung auf Recht und Moral äußerst günstig. Und unter dem integren Staatsmann Raúl Alfonsín schien die Zeit für einen ethischen und moralischen Wiederaufschwung gekommen. Er fand mit seinem Plädoyer für Gerechtigkeit und Toleranz unter der Bevölkerung große Zustimmung. Doch die peronistische Partei, die peronistisch dominierten Gewerkschaften und das Unternehmerlager blockierten die Regierung, wo sie nur konnten.

Alfonsín trat von seinem Amt zurück, und sein Nachfolger Carlos Menem von der peronistischen Partei drehte das Rad wieder zurück und setzte sich skrupellos über alle rechtsstaatlichen Grundprinzipien hinweg.

Die dominierende Prägekraft bestimmter mentaler Syndrome scheint echte politische und wirtschaftliche Veränderungen in Argentinien nicht zuzulassen. So ist es denn am wahrscheinlichsten, dass das Verharren im Wartestand, mit unübersehbaren Niedergangstendenzen, weiter anhält.

Das Ehepaar Kirchner

Im Gefolge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs Ende 2001 kam – nach einigen Übergangspräsidenten - im Mai 2003 Néstor Kirchner an die Macht und vier Jahre später seine Gattin Cristina Fernández de Kirchner. Offenbar ist beabsichtigt, dass bei den nächsten Wahlen wieder er antritt. Schade, dass der Autor die Kirchner-Dynastie nicht in seine Analyse einbezieht. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, ob er auch im Präsidentenehepaar Kirchner bloß ein weiteres Beispiel für die selbstbezogene und selbstherrliche Machtausübung argentinischer Politiker sieht.

Service

Peter Waldmann, "Argentinien. Schwellenland auf Dauer", Murmann Verlag

Murmann - Argentinien