Unser Leben in der Zeitfalle

Beschleunigen wir uns zu Tode?

Viele Menschen kennen das Gefühl, weniger Zeit zu haben als je zuvor - obwohl wir von Technologie umgeben sind, die uns helfen sollte, Zeit zu sparen. Dass dieser Eindruck nicht täuscht, erläuterte der Sozialwissenschaftler Hartmut Rosa in der Sendung "Jet Lag All Stars Radio Show". Er skizzierte auch Möglichkeiten, aus der Zeitfalle herauszukommen.

Neuer Maßstab für gelingendes Leben

"Mehr Möglichkeiten machen noch nicht ein besseres Leben", brachte es Rosa in der neuen Ö1 Nachtsendung auf den Punkt. Man müsse "einen anderen Maßstab für gelingendes Leben und gute Politik und Gesellschaft finden, als Steigerung".

Mit seinem Buch "Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne" hat Rosa für großes Echo in den deutschsprachigen Feuilletons gesorgt. Das Jammern über Zeitmangel ist wohl schon so alt wie die Erzählung von der "guten alten Zeit".

Zeitknappheit historisch betrachtet

Präsentiert Rosa also nur ein altes Problem in neuen Kleidern?

"Das Gefühl der Beschleunigung und dem Gefühl der damit verbundenen Zeitknappheit lässt sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert beobachten", präzisiert Rosa. Das hänge damit zusammen, dass unsere Gesellschaft kontinuierlichen Steigerungsprozessen unterliege: "Wir kommunizieren schneller, wir transportieren Dinge schneller und wir produzieren sie auch viel schneller."

Als Beispiel führt Rosa das sich verändernde Zeitgefühl für das Tempo in der Musik an: "Jazzmusik, die zur Zeit ihres Entstehens als Musik verkauft wurde, die den hektischen Rhythmus des Großstadtlebens widerspiegelt, wird heute als Musik für ruhige Stunden vermarktet. Was uns früher als hektisch erschien, erscheint uns heute als gemächlich."

Gespräch Teil 1

Hartmut Rosa in der "Jet Lag All Stars Radio Show"

Die Gesellschaft wird instabil

Was beschleunigt sich aber nun? Die Zeit selbst? Die Gesellschaft? Warum haben wir das Gefühl einer ständigen Beschleunigung? "Wenn man die Literatur dazu durchsieht, findet man eine totale Verwirrung", gibt Rosa zu bedenken. "Man findet Statements wie: 'Alles wird schneller' - was offensichtlich nicht stimmt, weil es gibt Sachen, die werden langsamer, Verkehrstaus sind da ein tolles Beispiel. Und dann findet man die Aussage: 'Die Gesellschaft wird schneller'. Das ist aber sehr unspezifisch. Und manche schreiben sogar, dass sich die Zeit selber beschleunigt", sagt Rosa. "Ich glaube es macht keinen Sinn zu sagen, dass sich die Zeit beschleunigt. Die Zeit per se als gesellschaftliches Phänomen kann sich nicht beschleunigen. Es sind Prozesse in der Zeit, die sich beschleunigen."

Der Soziologe führt drei Tendenzen an, die sich wissenschaftlich belegen lassen: Technische Beschleunigung, sozialer Wandel, Lebenstempo. Wir kommunizieren schneller, transportieren schneller. Zweitens führt Rosa eine Beschleunigung von Veränderungsraten an: "Die Gesellschaft wird instabil, die Dinge bleiben nicht so, wie sie sind. Mode- und Kunstwellen lösen sich in immer rascherer Folge ab, bis es keine festen Epocheneinteilungen mehr geben kann, weil alles gleichzeitig präsent ist."

Gesteigertes Lebenstempo

Das dritte Feld ist das Lebenstempo: "Wir versuchen das Lebenstempo zu steigern, indem wir versuchen, mehr Dinge in einen Tag unterzubringen. Wir versuchen Pausen wegzulassen, oder Multitasking zu tun. Lebenstempo, technische Beschleunigung, sozialer Wandel - diese drei kann man messen und nachweisen, unser Zeitalter ist dadurch geprägt."

Auch die Politik reagiere derzeit immer im Modus des Hinterher-Hechelns, analysiert Rosa: "Wir können alle gemeinsam entscheiden, ob wir Opfer sein wollen in dem Spiel oder gemeinsam auf den Tisch hauen und sagen: Ok, wir halten an der Idee des Gestaltungsversprechens fest. Das geht aber nicht so ohne weiteres. Mit dem reinen Willen ist es nicht getan. Man müsste dann das gesellschaftliche Tempo, die 'sozialkinetische Energie', wie Sloterdijk das ausdrückt, irgendwie in den Griff kriegen und gezielt auf Entschleunigung statt auf Beschleunigung abheben. Das geht nur, wenn wir uns gleichzeitig von den Wachstumsideologien der Moderne verabschieden."

Gespräch Teil 2

Zeitwahrnehmung und der "rasende Stillstand"

Zeit-Revolution

Gibt es einen Ansatz für eine Zeitrevolution, die man auslösen könnte? Rosa ist skeptisch gegenüber "einfachen Revolutionen": "Was nicht geht ist, dass wir alles so lassen, wie es ist und nur das Tempo rausnehmen, ein bisschen gelassener werden, uns mehr Zeit lassen."

Das Problem liege viel tiefer: "Moderne Gesellschaften sind in allen Dimensionen auf Steigerung angelegt. Das waren frühere Kulturen überhaupt nicht. Das sieht man in der Wirtschaft: Die muss wachsen, damit sie nicht abstürzt. Nicht, um ein Ziel zu verwirklichen muss sie wachsen, sondern um sich zu erhalten, damit es nicht schlimmer wird. Deshalb haben wir immer mehr Güter hergestellt. Der durchschnittliche Haushalt hat 10.000 Güter rumstehen. Unsere Zeit muss jetzt auf diese Güter verteilt werden. Das setzt uns unter Druck."

Gespräch Teil 3

Rosa über mögliche Zeit-Revolutionen

Eskalierende Steigerungshorizonte

"Wir haben ganz viele tolle Bücher, nur nicht die Zeit, sie zu lesen; viele CDs, aber wir hören sie nicht an. Wir haben Kontakt mit hunderten, ja tausenden Menschen, aber leider haben wir nur 24 Stunden, die wir auf die Menschen verteilen müssen. Und so geht es weiter mit Optionen, mit Kontakten, mit Möglichkeiten, mit Gütern", sagt Rosa.

"Das einzige, was man nicht steigern kann, sind die 24 Stunden. Das kann man sich vorstellen wie eine Paste, die wir auf immer mehr Dinge verteilen müssen. Deshalb wird die immer dünner, deshalb geht die uns aus. Deshalb glaube ich: Das Zeitproblem können wir nicht isoliert lösen. Das steht im Zusammenhang mit diesen eskalierenden Steigerungshorizonten. Eine Lösung wird sein, einen anderen Maßstab für gelingendes Leben und für gute Politik und Gesellschaft zu finden als Steigerung. Mehr Möglichkeiten macht noch kein besseres Leben."

Service

Hartmut Rosa, "Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne", Suhrkamp

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